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11/12/24

Buchempfehlung: Alt sind nur die anderen

Buchempfehlung: Alt sind nur die anderen

Es fällt schwer, sich alt zu fühlen

Wer den Roman „Chuzpe“ von Lilly Brett vor Jahren las, hat noch immer diesen melancholischen Erzählton im Ohr: Da ist Edek Holocaustüberlebender, als schrulliger, kaum alterndern, vor Lebenslust und –freude sprühender Mann die tragende Figur. Edek widersetzt sich hier den guten Ratschlägen seine Gesundheit und Sexualität betreffend. Ein Klops geht immer! Das meinte Edek. Jetzt erzählt die Autorin von ihrem eigenen Altern, schreibt von ihren etwas bizarren Essgewohnheiten – polnische Klopse spielen bei ihr keine Rolle – dem Leben in New York und erzählt feinsinnig davon, wie unbemerkt das Alter auf einmal mit am Tisch sitzt. Nirgendwo altert man vermutlich schneller als in einem Apple-Store in Soho.

„Ich zuckte zusammen, als ich merkte, dass ich die älteste Kundin im Laden war. Ich bin nicht neunundneunzig. Bis vor wenigen Wochen war ich noch keine siebzig.“

Zwei junge Apple-Mitarbeiterinnen helfen ihr, die Daten auf das neue iPad zu übertragen und benehmen sich ein wenig wie Herzchirurgen, die eine komplizierte Operation durchführen. Selbstironie ist ein Markenzeichen von Lily Brett, hier skizziert sie die hippe Szene in den Apple-Shops, an anderer Stelle kommentiert sie sarkastisch ihre doch regelmäßigen Besuche bei Ärzten. Ihre Gabe, aus anscheinend flüchtigen Begegnungen, kleine Geschichten zu bauen, wichtige Fragen zu stellen, lebt sie im vorliegenden Buch aus. Wie schließt man neue Freundschaften mit siebzig? Ist es wagemutig, die Emailadresse auf einen Papierschnipsel zu schreiben?

Die Kolumne „Im Zweifel eher glücklich“ bringt Lily Bretts Vater endlich wieder ins Spiel. Seinen hundertsten Geburtstag hat er bereits gefeiert, noch immer isst er leidenschaftlich und zu viel Kuchen. Die nachstehenden Zeilen sind im Kontext der anderen Lily-Brett-Romane zu verstehen, haben mehr Tiefe, als der erste Lesedurchgang vermuten lässt.

„Mein Vater ist jemand, der jeden Grund hätte, nicht viel Freude zu empfinden. Er war mehr als fünf Jahre in einem Nazi-Ghetto, dann in einem Arbeitslager und in einem Todeslager interniert. Der Großteil seiner Verwandtschaft wurde ermordet. Aber seit ich ihn kenne, hatte mein Vater fast immer einen fantastischen Appetit, eine große Vorliebe für schöne Frauen und einen herrlichen Sinn für Humor.“

Kolumnen, die schnell zu lesen sind, die aufheitern, nachdenklich machen und die einen sofort nach den „alten“ Romanen der Autorin suchen lassen.

Was Sie versäumen, wenn Sie diese Sammlung nicht lesen

Witz, Ironie, Selbstironie, Auseinandersetzung mit Gewohnheiten, dem Älterwerden und –sein, einen Hauch New York, Schrulligkeiten, Stilfragen, Zeitgeschichte.

Die Autorin Lily Brett

1946 in Deutschland geboren, danach in Australien und jetzt in New York lebend. Als Kind zweier Überlebender des Holocaust (ihre Eltern heirateten im Ghetto Litzmannstadt, wurden im KZ Auschwitz getrennt) thematisiert Brett Traumata und Retraumatisierungen, die Auswirkungen des Holocaust auf die nächste Generation und ihr Verhältnis zu Deutschland. Gern und stetig beschreibt sie ihre Arbeit als Journalistin eines Rock-Magazins, mit ihrem Roman „Chuzpe“ wurde sie ebenso berühmt wie mit ihren Kolumnen in diversen Zeitungen.

Lily Brett:
Alt sind nur die anderen.
Aus dem amerikanischen Englisch von Melanie Walz.
Suhrkamp 2020.
81 Seiten.

Christina RepolustChristina Repolust

Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at

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  • Veröffentlicht: 18.11.2020
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