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03/24

Lieben bis zur Schmerzgrenze

Lieben bis zur Schmerzgrenze

Genau 420 Seiten, von Winter auf Seite 7 bis zum Winter auf Seite 427 erzählt Anna Mitgutsch die Geschichte von Theo, dem stillen Theo, dem Theo, der sich immer zurücknimmt und der niemandem wehtun will. Theo, 97 Jahre alt, liebt sein Daheim: So läuft er jetzt leichtfüßig über weichen Rasen und erkennt, dass er erstens kein Kind mehr ist und er zweitens diesen Sturz nicht aufhalten können wird. Theo kommt ins Krankenhaus, seine zweite Frau Berta, mit der er sich doch immer so gut ohne Worte verständigt hat, sitzt an seinem Bett. Hier, im Bett liegend, taucht immer wieder Wilma in seinen Gedanken auf: Zuerst fühlte er, der Gärtnergeselle, der Holzknecht, sich auserwählt, von der Enkelin des Bürgermeisters wahrgenommen zu werden. Doch dann war er schnell zu minder, wusste nicht, was mit der schönen Stoffserviette anzufangen sei, schwieg, war noch unbeholfener als zuvor. Dann erkrankte Wilma, wurde launisch, die gemeinsame Tochter Frieda litt darunter, dann lächelte Theo alle Sorgen weg.

Hier breitet sich ein ganzes Universum an Verschwiegenem, an Missverständnissen, an Ungesagtem aus: Frieda hasst Berta, die ihr dümmlich erscheint. Berta hasst Frieda, die ihren Vater immer kritisiert und sie selbst ignoriert. Theo liebt Frieda und liebt Berta, aber mit Berta ist er glücklich, wie er es mit Wilma nie war, das Paar versteht sich ohne Worte. Berta, einfach, kaum des Schreibens mächtig, kocht prächtig, legt Deckchen im Haus auf und bewundert ihren Mann. Da ist Frieda, die verbissen Geschichte studiert und von ihrem Vater immer wissen will, was genau er im Krieg getan hat, ein ganz anderes Kaliber: Aufgeweckt, intelligent, angriffslustig, bereit, jeden Konflikt auszutragen. So wundert sich Theo nur geringfügig, als er Friedas Mann, einen Schnösel aus gutem Haus, der sich mit der Mao-Bibel dekoriert, kennen lernt. Die Ehe geht natürlich nicht gut, die Tochter will beim Vater bleiben, der Sohn kommt zu Frieda, ist häufig und gern bei Theo und Berta. Diese gibt ihm Liebe, Wärme und all das, was sie wichtig für ein Kind hält, ach, soll diese Frieda doch bleiben.

Theo sinniert im Krankenbett über sein stilles Leben, hinterfragt seine eigene Zurückhaltung: Hat er zu oft geschwiegen? Aber, was hätte ihm denn ein Streit gebracht? Einmal lag er in seinem eigenen Blut, war angeschossen, ob das Frieda gereicht hätte, ihn nicht länger unter Generalverdacht zu stellen? Zwischen Winter 1 und Winter 2 kommt schließlich Ludmila ins Haus, schließlich schafft Berta die Pflege ihres Mannes nicht mehr, ist selbst herzleidend, abgemagert, schnell aufgebracht.

Theo war froh, dass Ludmila nicht auf Antwort wartete, wenn er ihre Sätze nicht verstehen konnte, sie drängte ihm ihre Fürsorge nicht auf, war zu Stelle, wenn er aufstehen wollte, und stützte ihn so leicht, dass er glauben konnte, er käme ohne Hilfe zurecht. An der Badezimmertür drückte sie die Klinke herunter, aber er schob sie von sich ohne sie anzusehen und sie verstand: Er war kein hinfälliger Greis und legte auf seine Würde Wert.

Ludmila will ihn unterstützen, die Rosenstöcke umzusetzen; gleichzeitig will auch Berta ihre Beachtung, sie soll jetzt die Tochter sein, die diese nie hatte. Einmal will Ludmila eine Sportsendung im Fernsehen sehen mit dem Argument, daheim sehe ihre Tochter die gleiche Sendung, das bedeute doch Verbundenheit. Ludmila kehrt zu ihrer Familie in die Ukraine zurück, wohin ihr Frieda mit einem langjährigen Freund nachreist. Menschen gehen sich aus dem Weg, halten an alten Regeln fest, öffnen sich nicht und sehnen sich alle danach, geliebt zu werden: Theo, Berta, Wilma, Frieda, Melissa und die vielen anderen Figuren in diesem Familienbild.

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Beziehungen, die hart sind, Hoffnungen, die sich vielleicht auch erfüllen können, starke Charaktere, die sich nicht verbiegen wollen, exakte Analyse und Charakteristik eben jener starken Charaktere, Landschaften, die sich im Gegensatz zu manchen handelnden Personen sehr wohl öffnen, Mehrsprachigkeit des/der Menschen.

Die Autorin ist 1948 in Linz geboren, ist mehrfach ausgezeichnete Autorin, arbeitet auch als Übersetzerin von Lyrik, legt mit Romanen wie „Die Züchtigung“ oder „Die Ausgrenzung“ (1989) oder „Haus der Kindheit“ (2000) Psychogramme und Soziogramme vor: Sie kartiert Österreich und seine BewohnerInnen präzise, blickt tief und achtet exakt auf den Unterschied zwischen dem Finden und dem Erfinden.

 

 

Anna Mitgutsch.

Die Annäherung.

Roman.

Luchterhand 2016.

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  • Veröffentlicht: 06.07.2016
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