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07-08/24

Liebe hat viele Gesichter und Fratzen

Liebe hat viele Gesichter und Fratzen
Ayana Mathis: Zwölf Leben

Nein, mit Fratzen meine ich nicht die Kinderschar der Hauptperson Hattie, ich meine die Zerrbilder, die uns die Liebe zeigt. Oder die die Spielarten der Liebe auch sind. Wut, Sehnsucht, Hass, Trauer und Liebe dominieren diese Familiengeschichte, die diese riesige Familie zusammenhält.

Hattie und August also: Hattie ist in den 1920-er Jahren nach Philadelphia gezogen, sie hatte den in ihrem Heimatstaat Georgia herrschenden Rassismus einfach satt. August versteht zu pfeifen, besser als Arbeit zu finden, er ist liebesfähig, wenn Verantwortung nicht fixer Bestandteil von Liebe sein muss. Die Geschichte schildert das junge Paar und seine neu geborenen Zwillinge, es könnte schön werden. Doch die Kinder sterben noch als Babys an Lungenentzündung.

Ayana Mathis schildert den Überlebenskampf realistisch, die Verzweiflung klar und mit viel Weitsicht, dass auch ein Teil der Eltern mit den Babys stirbt. Armut, ein zugiges Daheim und überforderte Eltern bleiben zurück: Hattie und August bekommen ihre elf Kinder (eines, Ruthie ist von Lawrence, der zählt aber nicht!), jedem von ihnen ist hier ein Porträt gewidmet, in das die Zeitgeschichte eingewebt ist, ebenso die Familiengeschichte. Sala, die kleine Tochter von Cassie, also Hatties und Augusts Enkeltochter steht ebenfalls in der Ahnenreihe und ähnelt in ihrer Sturheit ihrer Großmutter. Floyd treffen wir im Bett an, mit einer jungen Frau: Er ist Musiker, er ist ein Draufgänger und er ist homosexuell. Will er das länger leugnen, will er seinen ersten Freund wirklich verleugnen und weiterhin mit Frauen und ihren Gefühlen spielen?

Alice hat es scheinbar gut getroffen, mit ihrem großen Haus und ihrem reichen Mann. Wären da die Tabletten nicht und die Einsamkeit, die sie wiederum an ihren Bruder Billups bindet. Dass er als kleiner Junge missbraucht wurde, teilen sie als dunkles Geheimnis, das aber eigentlich ein offenes Geheimnis wurde.

Sie war böse auf ihre Kinder gewesen und auf August, der ihr nichts als Enttäuschungen bereitet hatte. Das Schicksal hatte Hattie dazu ausersehen, Georgia zu verlassen, elf Kinder in die Welt zu setzen und sie im Norden anzusiedeln, aber da war sie selbst noch ein Kind gewesen und der Aufgabe, die ihr gestellt worden war, nicht im Mindestens gewachsen.

Hattie hält sich stets gerade, lässt sich nicht beugen, beantragt Sozialhilfe, auch wenn sie weiß, dass sie dafür ihre Nachbarn verachten. Nicht, dass diese reich gewesen wären, nein, ganz im Gegenteil: Es war ein Tabu, seine Armut zu zeigen. Hattie bricht nicht nur dieses Tabu. Toleriert sie Augusts Frauengeschichten?

Ein Ehepaar, das am Tisch nicht miteinander reden kann, aber sich im Bett noch alles sagen und zeigen kann. Schmusen und Koseworte sind Hatties Sache nicht, sie zeigt wenig Gefühle, ist aber immer da, wenn ihre Kinder sie brauchen.

Sechs Millionen Schwarze verließen zwischen 1910 bis 1970 den Süden der USA und zogen in die Industriestädte des Nordens der USA. Hattie Shephards fiktive Geschichte und die ihrer Kinder steht für diese „Great Migration“, für Verzweiflung, für Überleben, für Resilienz und für große Erzählkunst in der Tradition von Toni Morrison. Ayana Mathis, Tochter einer alleinerziehenden Mutter, wuchs in einem Arbeiterviertel von Philadelphia auf, ihr Debütroman „Zwölf Leben“ bringt sie nicht nur in den USA auf die Bestenlisten.

Ayana Mathis: Zwölf Leben. Roman
Übersetzt von Susanne Höbel
368 Seiten. München: dtv 2014.

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  • Veröffentlicht: 18.06.2014
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