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03/24

Liebe an Orten, die alle meiden

Liebe an Orten, die alle meiden

Dieser Roman präsentiert zentral Anjum, eine Hijras, eine Frau, zuerst ein Mädchen, in einem männlichen Körper. Anjum ist eigenwillig, stur und bereit, für die Liebe viel Schmerz auf sich zu nehmen. Arundhati Roy hält an einer zentralen Stelle des Romans fest, wie die Frauen rund um Anjum reagierten, als zwei Flugzeuge in die Twin-Towers flogen: 9/11 in Indien, Gewalttaten gegen die dort lebenden Muslime waren die Folgen. Doch der Reihe nach, hier ist der Erzählfaden leuchtend rot, aber auch schlingernd, auf viele Stationen verteilt.

Die Geschichte setzt bei der Beschreibung einer sonderbaren Frau auf dem Friedhof der Altstadt von Delhi ein: Hier hält eine besondere Frau Hof, hat rund um Gräber Häuser gebaut und sich eingerichtet. Ein blinder Imam besucht sie regelmäßig, sie philosophieren über das Leben, von dem er weiß, wie schwierig das ihre war. Ja, es gibt Flirts, es gibt Liebesbeziehungen, es gibt Biografien, die miteinander verwoben sind. Gewalt gegen Frauen wird hier ebenso klar und schonungslos erzählt wie politische Missstände angeprangert und analysiert werden.

Wie sehr sich Europa für Indien interessiert, zieht sich als Konstante durch den Roman, ausgewiesen sind nur Besonderheiten, wie eben das Leben der Hijras, weswegen die fiktive Heldin Anjum von so vielen Magazinen interviewt und Mittelpunkt mehrerer Dokumentationen wurde: Doch schnell versiegt das Interesse, eine neue Exotin wird gesucht und gefunden, während Anjum ihr Leben auf dem Friedhof in Ruhe weiterführt. Mit mehr Pflege als zu Beginn, mit interessanten BesucherInnen und schließlich mit einem Menschen, dem sie ihre volle Aufmerksamkeit schenken will. Das Persönliche ist hier – zurecht – das Politische; Pogrome gegen Muslime sind hier ebenso Thema und wird mit einer Romanfigur verwoben wie die Rolle der Frauen in Indien. Der Klang von Glöckchen tönt durch den gesamten Roman, Erotik lässt sich von der Gewalt nicht davonjagen: Anjum, eine Intersexuelle, hat ihren Weg gemacht, ihren wahren Körper entdeckt und dafür gekämpft, in ihm leben zu können.

Ich habe diesen Roman ohne nennenswerte Unterbrechungen gelesen, ich hatte Angst, sonst den Überblick zu verlieren: Das Gästehaus am Friedhof wird zur Utopie für Frieden im Land, hier finden alle Ausgestoßenen Platz und Frieden.

„Am Unabhängigkeitstag – es war zu einem Ritual geworden – saß Saddam mit Sonnenbrille neben Anjum auf der roten Taxirückbank. Er schaltete zwischen den Kanälen mit Gujarat Ka Lallas kriegerischer Ansprache im Roten Fort und einer großen öffentlichen Demonstration in Gujarat hin und her. ... Unfähig, die Demütigung, die ihnen angetan wurde, zu ertragen, hatten alle fünf Männer versucht, sich umzubringen. Einem war es gelungen. Als Erstes haben sie versucht, die Muslime und Christen zu erledigen. Jetzt machen sie sich über die Chamars her, sagte Anjum. (S. 500)“

Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Roman nicht lesen: Liebe in allen Formen, Mythen, starke Charakter, Indien dargestellt in all seiner Zerrissenheit, Menschen, die überleben, weil sie sich ausklinken, Gewalt gegen Muslime, Folgen des 11. Septembers auf Indien, sein Kastensystem, das Leben der Muslime, das Leben der Hijras – Frauen in einem männlichen Körper.

Arundhati Roy wurde 1959 geboren und wuchs in Kerala auf; jetzt lebt sie in Neu-Delhi. Ihr Roman „Der Gott der kleinen Dinge“ machte sie weltweit berühmt, sie und ihr Thema „Indien“, „soziale Gerechtigkeit“ – sie ist Autorin und wird auch als Aktivistin gefeiert.

Anette Grube, Jahrgang 1954, lebt in Berlin, übersetzt u. a. Chimamanda Ngozi Adichie, Kate Atkinson, Richard Yates u. a.

Arundhati Roy:

Das Ministerium des äußersten Glücks.

Roman.

Aus dem Englischen von Anette Grube.

Fischer Verlag 2017.

555 Seiten.

Christina Repolust

wurde 1958 in Lienz/Osttirol geboren. Sie schloss das Studium der Germanistik und Publizistik in Salzburg ab. Seit 1992 ist sie Leiterin des Referats für Bibliotheken und Leseförderung der Erzdiözese Salzburg und unterrichtet nebenbei Deutsch als Fremdsprache. Zudem leitet sie Literaturkreise und Schreibwerkstätten für Groß und Klein. Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.“

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  • Veröffentlicht: 01.11.2017
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