Elternsein ist ein Balanceakt zwischen Behüten und Loslassen. Aber wie geht das: auf die Entwicklung der Kinder vertrauen und ihnen gleichzeitig einen sicheren Rahmen geben? Wie werden Kinder zu lebenstüchtigen Erwachsenen?
Mit nur 960 Gramm Gewicht kam Alexandra viel zu früh auf die Welt. Als Sabine Mareda ihre Tochter zwei Tage nach der Geburt endlich in den Armen halten durfte, spürte sie sofort: „Das kriegen wir hin.“ Alexandra war zwar klein und zart, aber kräftig genug, sodass auf eine künstliche Beatmung verzichtet werden konnte. Das Vertrauen ihrer Mutter sollte später aber noch ganz anders auf die Probe gestellt werden.
„Lieben heißt loslassen“, lautet ein Sprichwort. Ja, wir Eltern lieben unsere Kinder, wir beschützen und behüten sie, doch das Loslassen ist manchmal ganz schön schwierig. Kann das Kind das schon alleine? Wie wird es klarkommen? Was, wenn etwas passiert? Es ist schön, wenn das Kind groß und selbstständig wird, aber es tut auch weh, wenn es uns weniger braucht, uns nicht mehr alles erzählt. Und loslassen heißt auch, sich von den eigenen Wünschen und Vorstellungen zu verabschieden, wie das Kind sein sollte. Damit dies gut gelingen kann, braucht es: Vertrauen.
VERTRAUEN BEGINNT FRÜH
„Das Vertrauen beginnt vor der Geburt, indem man sich mit dem Kind auseinandersetzt, mit ihm spricht, sich wohlwollend äußert, und es setzt sich nach der Geburt fort, indem man präsent ist und in Beziehung geht mit dem Kind“, erklärt der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Merl. Die Neurobiologie macht für dieses Verhalten das Bindungshormon Oxytocin verantwortlich, das uns an die Kinder bindet, sonst würden wir sie vernachlässigen.
Vertrauen ist eine wechselseitige Beziehung. „Eltern bieten Unterstützung an in den Belangen, die notwendig sind, und die Kinder verlassen sich darauf. Man nennt das auch ,sichere Bindung‘. Diese führt dazu, dass Kinder die innere Freiheit haben, die Welt zu erforschen und Neues zu wagen. Kinder, die kein Vertrauen und keine sichere Bindung haben, tun sich schwerer, weil das Alarmsystem im Gehirn häufiger und früher aktiviert wird.“
ALS INDIVIDUUM ERNST NEHMEN
„Eltern sollten dem Kind vertrauen, dass es sich entwickeln will und wird. Jedes Kind strebt danach, kompetent und selbstständig zu werden“, sagt auch der Schweizer Kinderarzt und Spezialist für kindliche Entwicklung Remo Largo. Eltern sollten das Kind in diesem Prozess unterstützen und nicht bevormunden. Wenn ein Kind immer wieder davon abgehalten wird, Dinge auszuprobieren und zu üben, geht ihm irgendwann die „Selbstwirksamkeit“ verloren – also die Überzeugung, schwierige Situationen aus eigener Kraft bewältigen zu können. Largo rät in seinem Klassiker „Kinderjahre“, das Kind als Individuum ernst zu nehmen, auf seine Stärken zu schauen und zu akzeptieren, dass es sich nur bedingt nach den Vorstellungen der Eltern entwickeln wird.
NICHT IMMER EINGREIFEN
Sabine Mareda hatte sich das Leben ihrer Tochter vermutlich auch anders vorgestellt. Alexandra war ein witziges, quirliges Kind, aber beim Laufen klagte sie oft über Schmerzen. Mit sechs Jahren bekam sie die Diagnose „Polyarthritis“. Die Krankheit bedeutet, dass die Gelenke ständig entzündet sind. Aufgrund der Cortisonbehandlung gegen die Schmerzen stellte der Körper bei 1,31 Zentimeter das Wachstum ein. Im Alltag ist Alexandra auf Unterstützung, zum Beispiel beim Anziehen, angewiesen, weil die Beweglichkeit ihrer Fingergelenke stark eingeschränkt ist. Anfangs hatte ihre Mutter Zukunftsängste: Was, wenn mir etwas zustößt und ich nicht da sein kann? Sabine und Alexandra Mareda sind beide optimistische, humorvolle Menschen. Das half, mit der Situation umzugehen. Mit der Zeit lernte Sabine Mareda, von Beruf Kindergartenhelferin, nur dort einzugreifen, wo es unbedingt nötig war, und auf die Willenskraft ihrer Tochter zu vertrauen, die dieser vieles möglich macht, zum Beispiel mit ihrer eigenen Technik flotter als manch anderer in die Computertasten zu klopfen.
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Michaela Altendorfer und ihre Kinder Jakob und Anna
„Die Situation annehmen, wie sie ist“
Michaela Altendorfer freute sich auf ihr erstes Kind. Als ihr der Arzt bei einer Routineuntersuchung drei Wochen vor dem Geburtstermin eröffnete: „Ihrem Baby fehlt die linke Herzhälfte“, wurde ihr Vertrauen tief erschüttert. Aber es gab die Hoffnung, dass das Baby durch mehrere Operationen gerettet werden konnte. Mit der Zeit lernte Michaela Altendorfer (42), in sich als Mutter und auf ihr Kind zu vertrauen. Entscheidend dafür war: die Situation anzunehmen. Wichtig war ihr auch, ihren Sohn nicht „unter einen Glassturz“ zu stellen. Um sich mit anderen Eltern zu vernetzen, gründete Altendorfer „Herzkinder Österreich“, eine Plattform für Eltern herzkranker Kinder. Vier Jahre nach Jakobs Geburt kam Tochter Anna (15) zur Welt. Der Schock war groß, als bei einer Untersuchung drei Löcher im Herzen entdeckt wurden. Zum Glück war keine Operation nötig, die Löcher schlossen sich von selbst wieder.
Obwohl Jakob (19) medizinisch gesehen als chronisch krank gilt, lebt er heute ein ganz normales Leben. Die täglich nötigen Blutverdünnungsmittel nimmt er selbstständig ein, und einmal im Jahr muss er zur Herzkontrolle. Als die Ärzte vor einem Jahr bei einer Untersuchung zufällig ein Aneurysma entdeckten und Jakob erneut operiert werden musste, „hat es uns beide arg gebeutelt“, sagt seine Mutter. Zum Glück ging alles gut. Michaela Altendorfer weiß, dass es Dinge gibt, die sie nicht beeinflussen kann. Gottvertrauen und eine „positive Grundeinstellung“ helfen ihr in diesen Situationen. Nach der Matura möchte Jakob ein soziales Jahr im Ausland machen. „Am Anfang musste ich schlucken. Aber ich vertraue ihm, er hat ein gutes Gespür für seinen Körper: Warum sollte er nicht ins Ausland gehen?“
Sabine Mareda und ihre Tochter Alexandra
„Ich traute ihr zu, dass sie alleine zurechtkommen wird“
„Wir waren nur zu dritt – ich, ihre Schwester und ihre Tante –, die es Alexandra vor neun Jahren zutrauten, dass sie alleine in einer Wohnung leben kann“, erinnert sich Sabine Mareda (56). Sogar ihr Mann war skeptisch: Wie solle das gehen? Im Alter von sechs Jahren wurde bei Alexandra (36) Polyarthritis diagnostiziert, eine Krankheit, die zu ständiger Gelenksentzündung führt. Die nötige Cortisonbehandlung hatte als Nebenwirkung, dass Alexandra nur 1,31 Meter groß wurde, auch Wachstumsspritzen halfen nicht. Alexandra musste unter anderem bereits zwei Knie- und zwei Hüftoperationen über sich ergehen lassen und war zwischenzeitig auf den Rollstuhl angewiesen.
Die Tatsache, dass Alexandra Mareda sehr humorvoll und willensstark ist, machte es den Eltern leichter, mit der Erkrankung umzugehen. Sabine Mareda hat ihrer Tochter immer viel zugetraut und darauf geachtet, sie nicht anders zu behandeln als deren Geschwister Julia (31) und Florian (27). Weil Sabine Mareda merkte, dass Alexandra gerne unabhängiger gewesen wäre und auch nicht immer auf die Taxidienste ihrer Eltern angewiesen sein wollte, kam die Idee mit der eigenen Wohnung auf. Im Internet fanden sie schließlich etwas Passendes. „Ich habe mich sofort wohlgefühlt“, meint Alexandra. In der Früh kommt die Hauskrankenpflege, hilft ihr beim Anziehen und begleitet sie zum Bus. Alexandra Mareda arbeitet im Bereich „Buchhaltung und Administration“ und hat ein gutes Netzwerk an FreundInnen und Bekannten. Ihre Mutter macht die Wäsche, putzt die Wohnung; zu Mittag isst Alexandra meist in der Werkskantine. Sabine Mareda ist stolz auf ihre Tochter: „Hätte es nicht geklappt, hätte sie jederzeit wieder heimkommen können.“
Lesen Sie das Porträt von Martina Friedl-Mühlberger und ihre Tochter Katharina in der Printausgabe.
Fotos: Robert Maybach, Monika Löff
Erschienen in „Welt der Frauen“ 05/19