Manches Mal mache ich folgendes Gedankenspiel: Wie viel Fleisch würde ich und würden die Menschen um mich essen, wenn wir die Tiere selbst schlachten, vielleicht sogar selbst erlegen müssten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich kein Fleisch mehr essen würde. Zumindest so lange ich genügend andere Nahrungsmittel zur Verfügung habe. Schon in meiner Kindheit war mir das Töten von Tieren ein Gräuel, da gerate ich vermutlich nach meinem Vater. Auch auf dem elterlichen Bauernhof wurde für das Schlachten der Schweine ein furchtloser Verwandter geholt und für das Köpfen der Hühner war meine Mutter zuständig. Und der einzige Ferialjob, den ich je gekündigt habe, war der in einer Hendlschlachterei. Ich habe das Stehen im Blutwasser mit der Nase und den Anblick der im Akkord getöteten Tiere in der Seele nicht ausgehalten.
Trotzdem bin ich bis jetzt nicht Vegetarierin oder Veganerin geworden. Ich kaufe Hühner bei einem Biobauern, Rindfleisch ebenfalls und – wenn es sich gelegentlich gar nicht anders machen lässt – auch Massenware aus dem Supermarkt. Dann fällt mir kurz ein, wie es diesen Tieren wohl vor ihrem Tod ergangen sein wird, aber ich schiebe es weg. Vermutlich geht es anderen Menschen ähnlich. Würden wir alles berücksichtigen, was wir über die Auswirkungen unseres oft gedankenlosen Konsums auf die Befindlichkeit anderer Lebewesen wissen, müssten wir unser Leben radikal ändern. Mich würde das überfordern. „Jetzt kann ich Gelierzucker 2 : 1 auch nicht mehr verwenden, weil da Palmfett drinnen ist“, meinte eine Bekannte kürzlich. Das billige Palmöl wird vor allem in Asien gewonnen. Riesige Plantagen von Palmen verdrängen den Regenwald und zerstören die Lebensräume von Tigern, Elefanten und Gorillas. Palmöl ist die Basis für zahlreiche Lebensmittel und Kosmetika. Sollten wir die alle einfach weglassen? Die Journalistin Tanja Busse meint, unsere Nahrungsmittelproduktion sei auf dem „Prinzip Schokoriegel“ aufgebaut: billige Inhaltsstoffe, schicke Verpackung, teure Vermarktung. Schmeckt, ist aber nichts wert. Deswegen mache ich manchmal im Supermarkt ein zweites Gedankenspiel: Welche Produkte kann ich nicht kaufen, wenn ich ökologisch und nachhaltig sinnvoll leben will? Ich müsste den Markt mit fast leerem Korb wieder verlassen.
Seit Beginn der Ökobewegung hat sich vieles verändert. Der Zugang zu verträglich produzierten Lebensmitteln ist deutlich besser. Auch das asketische Image vieler „korrekter“ Nahrungsmittel ist einer Buntheit gewichen. Warum ist dann trotzdem der Anteil von „guten“ Nahrungsmitteln nicht größer? Weil die mächtigen Verflechtungen der Nahrungsindustrie einfach bestimmen, was in die Läden kommt, sagen manche. Die raffinierte Werbung der Großkonzerne für ihre Biolinien könne unser Gewissen spielend beruhigen. Ganz sicher überfordert es uns im Alltag, uns permanent zu informieren und jedes Produkt zu hinterfragen. Für viele sind Bioprodukte auch nach wie vor eine Preisfrage, wenn sie den übrigen Lebensstil wie Reisen, Auto, Freizeit nicht verändern wollen. Vielleicht mögen viele auch nicht das Belehrende und Missionierende der nachhaltig und ökologisch korrekt Lebenden. „Ich versuche ja mit bestem Bemühen, vegan zu leben, aber es gelingt mir noch nicht“, meinte eine Referentin zum Thema „Ernährungsdiktatur“ bei einer Tagung. Ich war einigermaßen perplex, als sie dem Trost eines anderen Referenten, dass es gar nicht ausgemacht sei, dass vegane Ernährung um so viel besser und sinnvoller sei, nicht folgen wollte.
Ich meine, dass wir in einer so komplexen Gesellschaft wie der unseren mit „Reinheitsgeboten“ im Alltag nicht weiterkommen. Wir werden uns als Teil der westlichen Kultur vermutlich nie so verhalten können, dass wir nichts und niemanden schädigen. Wir können, realistisch betrachtet, fast nur auf symbolischer Ebene etwas tun. Ist das denn gar nichts? Wenn „vegan“ sich bei den Jungen durchsetzen sollte, doch auch deshalb, weil es zu ihrem Lebensstil passt und weil es ihnen schmeckt. Trotzdem haben sie ein Handy, das vermutlich nicht ganz fair produziert ist, oder fahren, wie der Guru der VeganerInnen, der deutsche Starkoch Attila, einen Porsche. Mir ist das sympathisch, auch weil es mich entlastet. Ich muss gar nicht die ganze Welt retten. Aber ich kann mit einem kleinen Teil beginnen.
Christine Haiden ist mit Fleisch groß geworden. Sie vermisst in vielen Ernährungsdebatten die Kompromissangebote.
Essen wir zu viel Fleisch?
- Seit Jahren predigen VertreterInnen einer nachhaltigen, unser Klima schonenden Lebensweise, dass wir weniger Fleisch essen sollten.
- Nicht nur, dass es ungesund ist, es ist auch mit ungeheurem Ressourcenverbrauch verbunden, Schlachttiere zu halten. Ebenso wird die Kraftnahrung für diese Tiere oft in Monokulturen hergestellt, was die Böden nachhaltig auslaugt und schädigt.
- Vegane Ernährung verzichtet völlig auf tierische Produkte, auch auf Eier und Milch.
- ErnährungsexpertInnen mahnen vor einem Mangel an Vitaminen, die ausschließlich durch tierisches Eiweiß aufgenommen werden können.
Erschienen in „Welt der Frau“ 11/14 – von Christine Haiden
Illustration: www.margit-krammer.at