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04-05/24

Kommen zu viele Flüchtlinge?

Kommen zu viele Flüchtlinge?

Von einer „Flut“ ist die Rede oder vom „Strom“ der Asylsuchenden. Diese Metaphern sind Teil der Politik und schüren Ängste und negative Gefühle. Manchmal hilft es, die Zahlen nüchterner und die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten.

„Eine Maus ist süß, 100 Mäuse sind ekelhaft.“ Diese Redewendung gebraucht eine meiner Freundinnen recht oft. Der Satz ist dabei gar nicht so herablassend gemeint, wie er zunächst klingt. Er beschreibt vielmehr einen allgemeinen psychischen Mechanismus der Angst. Denn wenn etwas in Massen auftritt, egal ob es sich um Dinge handelt, Pflanzen oder Menschen, beginnt das irgendwann unheimlich zu werden. Angesichts einer stetig wachsenden Menge von etwas kommt schnell die Furcht auf, die Kontrolle zu verlieren, eingeengt zu werden oder sogar aufgefressen von einer Übermacht.

Österreich und die Flüchtlingsfrage

In der Flüchtlingsfrage spielen bestimmte PolitikerInnen besonders gerne mit diesem Maus-Angst-Reflex, obwohl es hier gar nicht um Mäuse geht. Ganz normal scheint es auch, von einem „Flüchtlingsstrom“ oder einer „Flut“ zu sprechen, als gebe es keine andere Möglichkeit, um zu beschreiben, dass derzeit wesentlich mehr Menschen als sonst in Europa Asyl beantragen, weil sie auf der Flucht sind, eine neue Heimat suchen.

Das Bild von der „Flut“ oder dem „Strom“ legt – negativ gelesen – nahe, es müssten Schutzwälle und Dämme her, um die Gesellschaft vor „Überschwemmung“ zu schützen. In früheren Jahren fiel bezüglich Migrationspolitik auch oft der Satz „Das Boot ist voll“. Das klang dann so, als säßen wir hier in Europa selbst auf einem Flüchtlingsschiff und könnten niemanden mehr aufnehmen, ohne selbst unterzugehen. Es ist eigenartig, wie sehr solche Bilder sich einprägen und die Gefühle, die Einschätzung der Lage und die Politik bestimmen. 

Gefühle und Politik lassen sich nicht trennen – immerhin brauchen wir auch Mitgefühl, um gesellschaftlich zu handeln. Aber manchmal tut es gut, Zuflucht bei kühleren Argumenten zu suchen, auch gegen den eigenen fremdenängstlichen Schweinehund, den wir vermutlich alle in uns tragen. Eine Strategie gegen den zu schnellen Angstreflex ist es, genau hinzusehen und Fragen zu stellen: Haben wir, nur weil wir zufällig in Europa leben dürfen, mehr Anspruch auf Wohlstand und mehr Rechte als andere? Wie viele Einwanderer und Einwanderinnen kommen wirklich, welche Möglichkeiten der Hilfe haben wir und welche ethischen, humanitären Verpflichtungen? Es gilt auch, nüchtern zu fragen: Ist eine große Zuwanderung wirklich schlimm?

Fluchtbewegung als Chance

Die Wirtschaft funktioniere nicht wie eine Torte, von der nur feste Stücke zu verteilen sind, schrieb kürzlich die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann in der deutschen „Tageszeitung“. Vielmehr funktioniere der Kapitalismus wie ein menschlicher Magen: „Er dehnt sich einfach, wenn mehr hineingestopft wird. Mit der Zahl der Konsumenten und Arbeitnehmer steigt auch der Umfang der produzierten Güter. Fertig ist das Wachstum.“ So gesehen sind Flüchtlinge eine Chance, ein Potenzial. Der „Strom“ ließe sich demnach auch als lebensrettendes Wasser, als Bedingung für Fruchtbarmachung des Landes verstehen. 

Gegen den eigenen Angstimpuls gibt es aber auch noch eine andere Strategie: Gelassenheit, Akzeptanz des Wandels. Natürlich ist die hohe Zahl an Zuwanderern eine große Herausforderung. Doch ein Teil des Unbehagens besteht auch in der Furcht, selber zur Fremden zu werden, wenn die Mehrheitsverhältnisse sich ändern. Das Gefühl ist berechtigt, aber es hilft nicht weiter. Denn fremd werden wir sowieso, wenn neue Generationen nachwachsen. Als ich im letzten Jahr nach langer Zeit wieder in meiner Heimatregion, dem Ruhrgebiet, mit der S-Bahn fuhr, erschrak ich zunächst, weil sich die Zusammensetzung der Fahrgäste seit den Tagen meiner Kindheit so stark verändert hatte.

Die Zukunft ist migrantisch

Doch dann dachte ich, und es war eine Befreiung: „So ist es eben.“ Die Zukunft ist migrantisch, so wie es die Vergangenheit ja auch war. Die Großstädte werden ethnisch und kulturell durchmischter sein als bisher. Gesellschaften wandeln sich. Es hat keinen Zweck, zu leugnen, dass Europa ein Einwanderungskontinent ist, und auch Zäune und Grenzkontrollen werden das auf Dauer nicht verhindern. So ist es eben, und wir sollten das Beste daraus machen. 

Genau genommen hat das christliche Menschenbild das immer schon ausgedrückt. Denn es schert sich nicht um so Unwesentliches wie ethnische oder nationale Zugehörigkeit. Dieses Modell egalitärer Internationalität ist zukunftweisend. 

Erschienen in „Welt der Frau“ 10/15 

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  • Veröffentlicht: 13.10.2015
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