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Kinderbuch: Hübsch

Kinderbuch: Hübsch

Im Bilderbuch „Hübsch“ von Canizales wird eine Hexe schlecht beraten und sinnt auf Rache.

Ein Picknick im Sumpf – wenn das keine verlockende Einladung ist! Der Oger möchte die Hexe treffen, und er hat sich etwas wirklich Besonderes einfallen lassen: ein feines Menü unter freiem Himmel in trauter Zweisamkeit, abseits von den gewöhnlichen Wald- und Wiesenbewohnern, dort, wo niemand sich freiwillig aufhält, im feuchten, matschigen Gelände. Das wäre ganz nach Ogers Geschmack.

Was ziehe ich an?

Mit einem leisen Bling erscheint seine Nachricht auf dem Laptop der Hexe. Social Media hat längst Einzug gehalten als Kommunikationsmittel im Märchenwald. Die Hexe ist begeistert: „Himmlisch!“ antwortet sei. „Also Punkt 15 Uhr, dort. Bis gleich, Oger!“ Natürlich möchte sie hübsch aussehen. „Was ziehe ich an?“

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Die Hexe will für den Oger hübsch sein.

Der kolumbianische Bilderbuchkünstler Canizales konfrontiert uns mit kantigen Formen vor weißem Hintergrund. Angenehm anzusehen sind seine Bilder nicht, vielmehr fordern harte Gegensätze unsere Sehgewohnheiten. Die knallroten Augen von Hexe und Oger stehen in intensivem Farbkontrast zum wiederholt vorherrschenden Grün. Die schablonenhafte Hauptfigur bewegt sich auf der horizontalen Kontur des Untergrunds durch die Handlung und trifft pro Doppelseite jemand neuen.

Du gehst so gekrümmt.

Die Hexe ist den kritischen Blicken der Öffentlichkeit ausgesetzt und erntet unverhohlene Kommentare. Sie wird unbarmherzig beurteilt wie ein Model auf dem Laufsteg einer Modenschau. „Du gehst so gekrümmt.“ – „Aber nein! So wird das nichts.“ „Mit diesem spitzen langen Kinn?“ Die Tiere des Waldes mischen sich ein, nutzen ihre Unsicherheit auf dem Weg zu ihrer Verabredung aus, um sich wichtig zu machen. Eichhörnchen, Hase, Fuchs und Maus sehen äußerlich zwar süß aus, sind aber besserwisserisch und überheblich.

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Dem Oger gefällt die veränderte Hexe gar nicht.

Bis ins Detail wissen sie ganz genau, wie die Hexe aussehen soll, um als HÜBSCH zu gelten. Mithilfe Ihres Zauberstabes korrigiert sie einen angeblichen Makel nach dem anderen. Sie folgt, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern der jeweiligen Anweisung. Nach jedem Umblättern ist ein weiteres markantes Merkmal ihrer Erscheinung glattgebügelt. Das alles tut sie, um dem Oger zu gefallen.

Das bin nicht ich

Dass die Begegnung dann gänzlich anders ausfällt als sie erwartet, haben wir bereits geahnt.

Ein Blick in den Spiegel lässt die Hexe erschrecken: „Es stimmt, das bin nicht ich.“ Dieser Schock lässt sie zu sich kommen, und sie spürt, ihr Wesen ist ganz unabhängig von Schönheitsidealen einzigartig. Bewertungen von anderen sind ihr jetzt schnurzpiepegal. Sie hat erkannt, es geht nur darum, sie selbst zu sein, sich nicht zu unterwerfen und zu ihrer Eigenart zu stehen. Hexen sind nun einmal nicht vorrangig „HÜBSCH“, das ist wirklich nicht ihre Aufgabe!

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Die Hexe ist hübsch aber unglücklich.

Fürchterliche Rache

Und sie wäre nicht die Hexe, wenn sie sich bei den falschen Ratgebern Eichhörnchen, Hase, Fuchs und Maus nicht fürchterlich rächen würde. Mit viel Witz und Einfallsreichtum kreiert sie ein Menü, das mit der Haute Cuisine feiner Restaurants locker mithalten kann. „Caramelisierte Raspeln vom Eichhörnchenschweif“ finden sich ebenso wie „Cordon bleu aus Mäusefleisch“ oder „Knusprig gebratener Fuchs“.

 

Weitere Einzelheiten dieser für Veganerinnen und Vegetarier gänzlich ungeeigneten Pointe, die sich auf der letzten Doppelseite vorwiegend an die erwachsenen Vorleserinnen und Vorleser wendet, sollen noch geheim bleiben.

Ein bereits mehrfach ausgezeichnetes Bilderbuch, mit dem Kinder ab vier Jahren gemeinsam mit ihren Erwachsenen über Authentizität und Fremdbestimmtheit nachdenken und dabei eine witzig und flott erzählte Geschichte genießen können. „Köstlich, geliebte Hexe! Was war das?“ Raffiniert hat sie den Oger eingekocht, genauso wie Canizales das deutschsprachige Publikum.

Hoffentlich erscheint bald mehr dieses temperamentvollen und eigenwilligen Illustrators als willkommene Abwechslung im Bilderbuch-Märchenwald.

Hübsch
Text: Canizales
Jungbrunnen

 

Veronika Mayer-MiedlVeronika Mayer-Miedl

wurde 1971 geboren, ist Buchhändlerin, Mutter von 3 Kindern und lebt in Ottensheim, wo sie 17 Jahre im Kleinen Buchladen tätig war. Ein Fernkurs für Kinderliteratur an der „STUBE Wien“ war wegweisend. Glückliche Begegnungen bei Seminaren im „Kinderbuchhaus im Schneiderhäusl“ inspirierten zu Bilderbuch-Stunden für Eltern-Kind-Gruppen, zu Literaturvermittlung für Vorschulkinder und zu Referententätigkeit für Kindergartenpädagogik. Aktuell rollt sie mit Eisenbahn oder Fahrrad die Donau entlang nach Linz, wo sie als Mitarbeiterin der Buchhandlung ALEX am Hauptplatz Bücher empfiehlt, die auf den zweiten Blick noch Überraschendes bereithalten. Mit ihrer Freundin vom Figurentheater [isipisi] teilt sie die Leidenschaft für das japanische Erzähltheater „Kamishibai“ und gibt Vorführungen in Bibliotheken, Kindergärten und Schulen. Fallweise tritt sie als Grille, rebellische Juliane oder sogar Meerjungfrau auf.

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  • Veröffentlicht: 11.02.2021
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