Aktuelle
Ausgabe:
Zeit
07-08/24

Kein Kind ist eine Insel

Kein Kind ist eine Insel

Fiona Maye ist nicht nur Richterin, sondern auch eine virtuose Pianistin, weit über das Hobby hinausgehend. Sie und ihr Mann haben es sich seit dreißig Jahren gemütlich eingerichtet: Er ist Geschichtsprofessor, sie Höchstrichterin, Kinder gingen sich wohl nie aus. Die Geschichte dieser Ehe wirkt wohl temperiert und ein wenig abgestanden wie Räume, die man schon länger nicht mehr nutzt. Doch mitten in London, eine Woche nach Ende der Gerichtsferien, beim zweiten Scotch mit Wasser – es ist Talisker! – wünscht Fiona Maye sich, ihre feine Einrichtung, ihren seriösen Ehemann und vielleicht sich sogar selbst auf den Meeresgrund. Weg, aufräumen, neu anfangen: Da will der Ehemann ihren Segen, damit er mit einer neuen Frau seine Sexualität neu entdecken kann. „Ich brauche das. Ich bin neunundfünfzig.“ Quatsch, er ist eigentlich sechzig.

Fiona Maye kennt sich mit Scheidungsfragen, Unterhaltsdiskussionen und allem Bizarren, das Beziehungen bieten, bestens aus. Richterin zuerst beim Familiengerecht, jetzt beim High Court – das Leid trägt nur unterschiedlich feinen Stoff, unterschiedliche Absätze und Frisuren, sonst riecht die Angst der Kinder immer gleich, die Verzweiflung der Frauen, die Wut der Männer über Unterhaltspflichten. Ian McEwan tut so distanziert, beschreibt aus gewissem Abstand und setzt dann doch die kultivierte Bösartigkeit des Milieus in Szene:“ Melanie. Nicht unähnlich dem Namen einer tödlichen Form von Hautkrebs.“ So sinniert die gerade verlassen werdende Ehefrau, die berühmte Richterin, die Perle der Justiz, begehrter Gast bei privaten Einladungen.

Der Mann verdrückt sich wie ein Feigling, sie starrt auf ihr Handy und genießt ab dem ersten Abend ihre Einsamkeit, nein, das Alleinsein, nur einmal nimmt sie ein Schlafmittel, sonst freut sie sich über die Ruhe und denkt über sich und ihre Großfamilie und ihre Perspektiven nach. Der Fall, der schnell gelöst sein muss, ist der eines Jungen: Noch nicht alt genug, um selbst die für seine aggressive Leukämie nötige Bluttransfusion zu verweigern. Sein Umfeld: Zeugen Jehovas. Fiona Maye besucht Adam, sieht ihn im Bett liegen, sich ganz seinen Gedichten, seinen Bildern des Teufels hingebend und beginnt mit ihm trotz Anwesenheit einer Sozialarbeiterin zu singen. Sie will ihn überzeugen, dass er zu jung zur Entscheidung ist, dass er noch gar nicht wissen kann, was das Leben ist. Sie entscheidet sich, die Wünsche der Familie – Verweigerung der Blutkonserven und die des Jungen – zu ignorieren. Was genau ist das Kindeswohl? Warum soll dieser junge Mann nicht andere Gedichte schreiben, weiter musizieren, sich bald verlieben? Sie entscheidet anschließend im Gericht für die Bluttransfusion, in Adam hat sie hingegen etwas Kostbares hinterlassen.

Der Ehemann kommt zurück, Fiona ist enttäuscht, sie hätte es gut ohne ihn geschafft, hat ihre Fragen an die Rechsstaatlichkeit gestellt und beantwortet. Der Junge mit seiner Geige besucht Fiona, zeigt sich in sie verliebt, ist ihr nachgereist, sucht ihre Nähe.

Ihre Verfehlung lag jenseits der Reichweite eines Disziplinarverfahrens. Adam hatte sich an sie gewandt, und sie hatte ihm nichts geboten, keinen Ersatz für seine Religion, keinen Schutz, dabei war das Gesetz eindeutig, sein Wohl hatte ihr als oberste Richtschnur zu dienen.

 

 

Ian McEwan:

Kindeswohl. Roman.

Aus dem Englischen von Werner Schmitz.

Zürich: Diogenes 2015.

  • Teile mit:
  • Veröffentlicht: 25.03.2015
  • Drucken