Die Ohnmacht des Gesundheitssystems
Einerseits überzeugt Dänemark mit hyggeligen Büchern und den schönen Duftkerzen, andererseits zeigt uns die Autorin hier die Mängel im Gesundheits- und Sozialsystem: Wer zieht Gewinn aus Therapieansätzen, wer wird in Kliniken ruhig gestellt, wer vielleicht sogar festgebunden? Wie agieren Eltern, wie verteilt sich die völlig unsinnige Schuldfrage zwischen Therapieeinrichtung und Eltern? Wer tötet eine Krankenschwester, einen Pädagogen brutal, lässt sie ausbluten und legt sie dann in diverse Brunnen? Was hat das mit einem Suizid vor einigen Jahren zu tun?
Dazwischen trinken auch die ErmittlerInnen Kaffee, sind von ihren Müttern genervt und verlassen heimlich die Vater-Mutter-Kind-Idyllen.
Jeppe Korner ist ein guter Ermittler, hat seine privaten Probleme einigermaßen im Griff und vermisst seine Arbeitskollegin Anette Werner. Die wiederum versucht, Liebe für ihr Baby zu empfinden, manchmal schleicht sie sich ins Auto und hört beim Stillen den Polizeifunk ab. Eine Tote im Brunnen in der Fußgängerzone mitten in Kopenhagen? Die Ermordete ist eine unbescholtene, unauffällige Krankenschwester, bodenständig, hilfreich, daran erinnert sich Anette noch. Auch das nächste Opfer war unauffällig, freundlich, ein Pädagoge, der sein Bestes gab. Jeppe wohnt derzeit bei seiner Mutter, auch das ist nicht sehr hyggelig: Einerseits weicht er ihr mit schlechtem Gewissen aus, andererseits wirft sie überraschende Ansichten auf den Frühstückstisch. Irgendwie läuft es doch nirgends rund!
„Trauer vergiftet alles Lebende und nimmt ihm die Farbe, Trauer ist ein Nichts, das durch die Blutbahnen läuft, durch Blätter, Halme und Steine, bis nur noch die äußere Hülle von etwas zurückbleibt.“
Nach dem Suizid der Tochter läuft die Ehe beinahe aus dem Ruder: Waren sie zu ehrgeizig, haben sie die junge Turnerin überfordert? Haben sie ihre Zwangsstörung zu leicht genommen, Anzeichen des Suizids übersehen oder haben die Pädagogen in der alternativen Einrichtung weggesehen? Oder war die Einrichtung zur Bereicherung der Betreiber gedacht und nicht zum Wohle der jungen, verwirrten Menschen, jeder für sich liebenswert? Die Ermittlungen führen an Ränder der Gesellschaft, zu jenen Menschen, die mit viel Sinn für Gerechtigkeit nicht mehr in der Bussi-Bussi-Gesellschaft mitmachen wollen, die die Verlogenheit körperlich verletzend finden. Einer von ihnen tötet, weil er Rache will. Jemand anderes mordet, weil die Ausgrenzung so unerträglich ist. Jeppe und Anette haben wirklich viel zu tun, am Ende liebt Anette ihre Kleine, so knapp dem Tod entronnen, wie sie ist.
Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Thriller nicht lesen
Hygge in feinen Dosen, Spannung, Vernichtung, Ausweichen, Aussteigen, Umgang mit psychisch Kranken, Familienaufstellungen, Fragen nach dem Sinn, einfach mal so generell, Porträts einer guten Polizistin in Mutterschaftsurlaub und da staut sich nicht nur die Milch, Brutalität, Feinsinnigkeit, ein wenig Liebe und auch Verrat, Lust auf Pasta und Oper, das nur nebenbei.
Die Autorin Katrine Engberg
1975 in Kopenhagen geboren, arbeitet für Theater und Fernsehen, ist Tänzerin, Choreographin und Regisseurin. Ihre Thriller „Krokodilwächter“, „Blutmond“ sind Bestseller, die das Leben in Kopenhagen durch diverse Charakter – ErmittlerInnen wie TäterInnen – mit aktuellen politischen Themen verbinden.
Katrine Engberg:
Glasflügel.
Ein Kopenhagen-Thriller.
Diogenes 2020.
426 Seiten.
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at
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