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Junko Tabei: Die erste Frau am Mount Everest

Junko Tabei: Die erste Frau am Mount Everest

Die Japanerin Junko Tabei war die erste Frau, die den Mount Everest und die höchsten Gipfel aller Kontinente bezwang. Die Geschichte einer Gipfelstürmerin.

Es ist laut, und es geht schnell. Bevor Junko die Augen öffnen kann, ist die Lawine schon über sie hinweggedonnert. Es gibt kein Oben mehr und kein Unten, nur noch weiß. Während der Schnee ihr die Luft abdrückt, spürt Junko, wie sie das Bewusstsein verliert. Sie denkt an ihre kleine Tochter, dann löst sich alles auf. Als sie die Augen wieder öffnet, blickt sie in das panische Gesicht des Sherpas, der sie ausgegraben hat. Es ist der 4. Mai 1975, und Junko befindet sich in 6300 Metern Höhe am Mount Everest.

Seit sie ein Mädchen war, zieht es Junko Tabei in die Berge. Sie war ein schwaches, zartes Kind, doch die Berge konnte sie in ihrem eigenen Tempo bezwingen. Es gab keinen Wettkampf, keine Trillerpfeifen – ein Berg ist geduldig. Früher oder später kam sie immer oben an.

Doch das Bergsteigen ist ein brotloser Beruf, und noch dazu völlig unangebracht für eine junge Frau im Japan der Fünfziger Jahre. Als Junko an die Universität geht, schreibt sie sich darum für Englische Literatur ein. Dennoch tritt sie dem Bergsteigerclub der Hochschule bei. Sie ist die einzige Frau im Club, und manche der Männer weigern sich, mit ihr gemeinsam zu klettern.

Junko ist das egal. Nach und nach bezwingt sie die höchsten Berge des Landes, so auch den Mount Fuji. Auf einer ihrer Expeditionen lernt sie den jungen Bergsteiger Masanobu Tabei kennen. Die beiden verlieben sich und heiraten, als Junko 27 Jahre alt ist. Ihre Eltern sind gegen die Ehe – als Bergsteiger ohne Universitätsabschluss ist Masanobu in ihren Augen keine gute Partie.

Irgendwann hat Junko genug von der Frauenfeindlichkeit in den meisten Bergsteigerclubs und gründet den ersten Frauenclub des Landes. Gemeinsam besteigen die Frauen Berge in ganz Asien. Als sie auf dem Gipfel des über 7500 Meter hohen Annapurna III im Himalaya steht, kommt Junko eine gewagte Idee: Sie will die erste Frau auf dem Gipfel des Mount Everest werden.

Das ist nicht einfach: Frauen sollten bei den Kindern bleiben, bekommt sie zu hören, und seien außerdem körperlich gar nicht in der Lage, den Everest zu bezwingen. Junko lässt sich nicht entmutigen und sucht nach Sponsoren für die Expedition, bis sie Zusagen von einer Zeitung und einem Fernsehsender bekommt. Sie stellt ein Team aus vierzehn Frauen ihres Clubs zusammen. Trotz der Unterstützung durch die Sponsoren kostet die Tour jede von ihnen Unsummen. Um Geld zu sparen, nähen sie ihre Schlafsäcke und Handschuhe selbst.

Nach langem, hartem Training kommen die Frauen im Frühjahr 1975 in Kathmandu an. Für den Aufstieg wählen sie dieselbe Route, der Edmund Hillary und Tenzing Norgay mehr als zwanzig Jahre zuvor gefolgt waren. In der Nacht auf den vierten Mai, nachdem sie auf 6300 Metern Höhe ihre Zelte aufgeschlagen haben, werden sie im Schlaf von der Lawine überrascht. Wie durch ein Wunder überleben alle Frauen. Sie haben Quetschungen und Blutergüsse davongetragen, auch Junko, die erst nach zwei Tagen wieder stehen kann. Trotzdem besteht sie darauf, die Expedition fortzusetzen. Am 16. Mai 1975 erreicht Junko auf allen vieren kriechend als erste Frau den Gipfel. Sie hat es geschafft.

Der Erfolg der Expedition wird groß gefeiert. Junko erhält Glückwünsche der japanischen Regierung und des Königs von Nepal, tritt auf Veranstaltungen und im Fernsehen auf. Doch die Aufmerksamkeit ist ihr unangenehm. Bis ans Ende ihres Lebens meint sie bescheiden, sie sei doch nur die sechsunddreißigste Person auf dem Gipfel gewesen.

Junko hört nie damit auf, Berge zu besteigen. Keine zwanzig Jahre nach der Expedition auf den Everest wird sie die erste Frau, die die höchsten Gipfel in allen sieben Regionen der Welt bezwungen hat: Den Kilimandscharo in Tansania, den Mount Vinson in der Antarktis, die Carstensz-Pyramide in Papua, den Aconcagua in Argentinien, den Mount McKinley in den USA, den Elbrus in Eurasien und natürlich den Mount Everest.

Danach geht sie zurück an die Universität, wo sie sich mit der Verschmutzung des Mount Everest durch den Müll, den Bergsteiger dort zurücklassen, beschäftigt. Außerdem engagiert sie sich im „Himalayan Adventure Trust of Japan“ für die ökologische Unversehrtheit der Berge, die sie so liebt. 2012 wird bei ihr Krebs diagnostiziert. Sie hört nicht auf zu klettern, bis sie vier Jahre später ihrem Leiden erliegt.

Ricarda OpisRicarda Opis

wurde 1996 in Graz geboren und studierte ebendort Journalismus und Public Relations (PR). Sie erzählt am liebsten die Geschichten von Frauen und Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Für diese Serie verbindet sie ihre beiden größten Leidenschaften, indem sie die Geschichten großer Frauen nicht nur erzählt, sondern auch bebildert. Wenn sie nicht gerade schreibt oder zeichnet, begeistert sie sich für alles, was sonst noch kreativ ist, und die Geschichte, Kulturen und Politik des Nahen Ostens.

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  • Veröffentlicht: 30.06.2019
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