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Buchempfehlung: Ihr Königreich

Buchempfehlung: Ihr Königreich

Wir gegen alle anderen

Wenn Jo Nesbø zu erzählen beginnt, wartet man auf den ersten Toten, den ersten Mord, den ersten Rückfall des trockenen Alkoholikers Harry Hole, auf die Hektik und die Intrigen des Polizeiapparates. Diesmal ist das erste Lebewesen, das zu Tode kommt, Dog. So der Name des Hundes, den Namen hat ihm der Vater gegeben, der nie viel Worte machte. Harry Hole tritt hier nicht auf, Hektik kommt hier in den Bergen rund um die norwegische Kleinstadt Os nie auf, Intrige und Versteckenspielen kennt man hier aber sehr wohl. Nesbø entwickelt hier vorsichtig die Legende der beiden Opgard-Brüder, deren Eltern bei einem Autounfall starben, die stets mit mysteriösen Autounfällen in Verbindung stehen und alle im Ort immer wieder verwundern.

Es ist Roy, der Ich-Erzähler, der Dog schließlich von seiner Qual erlöst: Dem Vater gegenüber ist es Carl, der jüngere der beiden Brüder gewesen, schließlich will der Vater „richtige Männer“ in seinen Söhnen sehen. Trauer wird hier weggewischt, der Vater liebte Dog, mehr noch, er vergötterte das Tier. So lernt man im Prolog diese vierköpfige Familie am Berg kennen, erfasst schnell die Werte, die hier geteilt werden, die Nähe zwischen Roy und dem Vater, die Ähnlichkeit von Carl und seiner Mutter. Die Eltern kamen bei einem Autounfall um, so erfährt man einige Seiten weiter: Der Berg, Bremsversagen, eine ungesicherte Stelle, zwei Jugendlich bleiben zurück. Doch echte Nesbø-LeserInnen wissen: Da steckt mehr dahinter, wenn nur Roy, der schweigsame Ich-Erzähler schneller all die Geheimnisse lüften würde.

Roy bastelt an den Autos an der Tankstelle, will, dass sie und seine Werkstatt überleben, lässt sich auf die Jugendlichen ein, die bei ihm arbeiten, die an der Tankstelle rumhängen, die ihn auch ab und zu belügen. Es könnte alles so bleiben, es müsste keine Katastrophe passieren, die Charaktere erinnern in ihrer Einsamkeit an die Menschen, die einfach bleiben, nicht weg wollen, stoisch einen Tag nach dem anderen durchleben.

„Ich hörte ihn, bevor ich ihn sah. Carl war zurück. Ich weiß nicht, warum ich an Dog dachte, die Geschichte lag zwanzig Jahre zurück. Vielleicht, weil die plötzliche, unangekündigte Rückkehr den gleichen Grund wie damals haben musste. Wie immer. Dass er die Hilfe seines großen Bruders brauchte.“

Carl, der bei Frauen immer gut ankam, hat seine Frau mitgenommen, Shannon, weiß wie Schnee, das Ebenbild des hübschen Carl. Das Paar hat große Pläne, will alle im Ort zur Mitfinanzierung eines Hotelprojektes überreden: Wer will aber Carl trauen? Was genau passierte damals, beim Unfall der Eltern? Was geschah mit dem Polizisten, der die alte Spur wieder aufnahm? Ist Roy Opfer oder Täter? Oder lässt sich das einfach nicht so genau trennen? Roy versteht die Teenager, kennt die Scham in den Augen seiner Kunden, will Kinder und Jugendliche beschützen und geht dabei nicht immer legale Wege. Ein wenig wie Harry Hole, vielleicht ähneln Einsame einfach einander.

„Ich kannte diese Scham. Hatte sie schon einmal gesehen. Zu Hause. In einem Spiegel. Ich erkannte sie wieder. Größer konnte sie nicht werden. Nicht allein, weil die begangene Sünde so verabscheuungswürdig und unverzeihlich war, sondern weil sie sich wiederholen würde.“

Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Roman nicht sofort lesen

Abgründe im konkreten und übertragenen Sinn, Liebesgeschichten, Familiengeschichten und –lügen, verlogene Dorfidyllen, Stadt-Land-Animositäten, Geschichte zweier Brüder, feine Sprache, hintergründige Geschichte, einen norwegischen Anti-Heimat-Roman mit erstaunlich vielen Toten

Der Autor Jo Nesbø

Jo Nesbø:
Ihr Königreich.
Aus dem Norweischen von Günther Frauenlob.
Kriminalroman.
Ullstein 2020.
592 Seiten.

Christina RepolustChristina Repolust

Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at

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  • Veröffentlicht: 11.11.2020
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