Aktuelle
Ausgabe:
Zeit
07-08/24

Jedes Vielleicht stört den Hass

Jedes Vielleicht stört den Hass

Die Wahlkämpfe 2016 sind ausgewertet, Hass im Netz ist mehr als ein Schlagwort und die Hetze geht weiter: gegen Homosexuelle, gegen Flüchtlinge, gegen alle, die anders sind. Da hassen die Unteren die Elite, selbst wenn es nur der schlecht bezahlte Probelehrer des Sohnes ist, der dessen Genie noch nicht zu erkennen imstande war. Da gibt es die Bildungsschickeria, gegen die gehetzt wird, die besser Verdienenden, denen jede Leistung abgesprochen wird. Flüchtlingsheime zu attackieren, gilt nicht als schockierend, wird als „Sorge haben“ konnotiert, natürlich, das sollte schon nicht geschehen. Die einen spotten über die politische Korrektheit, die anderen meinen, nun sei aber Schluss mit der Toleranz.

Nun, ich halte es für keinen zivilisatorischen Zugewinn, wenn ungebremst gebrüllt, beleidigt und verletzt werden darf. Ich halte es für keinen Fortschritt, wenn jede innere Schäbigkeit nach außen gekehrt werden darf, weil angeblich neuerdings dieser Exhibitionismus des Ressentiments von öffentlicher oder gar politischer Relevanz sein soll. Wie viele andere will ich mich nicht daran gewöhnen. Ich will die neue Lust am ungehemmten Hassen nicht normalisiert sehen. (S. 15)

Wie sehr ein Name die soziale Existenz bestätige, festschreibe, zeigt Carolin Emcke am Beispiel der Transpersonen: Diese sollen auf einen Namen hören, der das verleugnet und bestreitet, was sie leben. Warum sollten diejenigen, die ausgegrenzt und missachtet werden, um ihre Rechte und Freiheiten kämpfen? Zahlreiche Belege demonstrieren die Mechanismen der Ausgrenzung, die Erwartungen, die die Gesellschaft gegenüber den „anderen“ hegt. Emckes Hinweis, es gelte, sich wieder den Freiraum der Phantasie zurückzuerobern, sich die Geschichten vom Glück in Erinnerung zu rufen. Es gehe darum, Geschichten vom gelungenen, dissidenten Leben und Lieben zu erzählen, es solle sich die Möglichkeit des Glücks festsetzen.

Die Analyse ist genau, präzise und visionär: Emcke analysiert Ausschreitungen gegen Wehrlose und spricht dabei auch die Rolle der schweigende Masse sowie der Exekutive an. Sie erzählt die Historie des Hasses und der Verleumdungen; sie verweist darauf, dass Hass nie plötzlich ausbricht, sondern gezüchtet wird, dass er weder individuell noch zufällig ist. Es ist an der Zeit, diesen Hass nicht weiter zu nähren.

Gegen den Hass aufzubegehren, sich in einem Wir zusammenzufinden, um miteinander zu sprechen und zu handeln, das wäre eine mutige, konstruktive und zarte Form der Macht. (S. 218)

 

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: eine kritische Reflexion über Rassismus, Fanatismus und Demokratiefeindlichkeit, eine feine Differenzierung der Vielstimmigkeit, feinsten Humor im zweiten Kapitel „Homogen – natürlich – rein“ sowie im dritten Teil „Lob des Unreinen“, geschliffene Formulierungen, kühle Differenziertheit bei aller Empathie und allem Engagement der Autorin.

 

Die Autorin: Jahrgang 1967, studierte Philosophie in Frankfurt, London und Harvard, sie bereiste von 1998 bis 2013 Krisenregionen, arbeitet als freie Publizistin; seit über 10 Jahren organisiert und moderiert sie die monatliche Diskussionsreihe „Streitraum“ an der Schaubühne Berlin. Sie ist eine mehrfach ausgezeichnete Journalistin und Autorin. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

 


 

Carolin Emcke:

Gegen den Hass.

Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2016.

239 Seiten.

 

  • Teile mit:
  • Veröffentlicht: 15.03.2017
  • Drucken