Es gibt Bücher, die empfehle ich weiter. Es gibt Bücher, die könnte ich einfach Satz für Satz hier abschreiben, glauben Sie mir, das sind wenige. Aber „Herkunft“ ist jenes Buch, das ich verschenke, das ich zitiere, das ich jedem/jeder empfehle, der/die mir unterkommt. Und was heißt genau „unterkommt“.
Dieser Roman zeigt deutlich, warum Heimat ein Pluralwort sein oder werden muss, führt in die Heimat(en) des Autors, seiner Eltern und besonders seiner geliebten Großmutter bzw. Großeltern. Gleichzeitig führt er in die Welt der Geschichten und Erzählungen, gleichzeitig hält er fest, wie der junge Saša Stanišić in Deutschland, in Heidelberg ankommt. Wie er Deutsch lernt, wie er Freunde findet an der ARAL-Tankstelle, wie er versteht, dass er hier nicht so schnell wo dazu gehört. Ja, die Möbel sind vom Sperrmüll, soll man da die Eltern eines Freundes einladen? Geflüchtet ist er mit seiner Mutter, einer Politologin, alle Familienmitglieder waren 1992 der Meinung, der Krieg werde bald vorbei sei und man könnte wieder nach Hause zurück.
„Am 24. August 1992 kam in Heidelberg nach dem Regen die Sonne. Mutter wollte dem von der Reise verunsicherten Jungen, der ich war, etwas Gutes tun. Dass sie selbst ebenso verunsichert war, verbarg sie, so gut es ging. ... In einer Eisdiele kaufte sie uns Schokoladeneis. Mit den Waffeln in der Hand spazierten wir auf einer langgezogenen Straße und später neben einem Fluss. Ziellos wanderten wir durch eine Welt, in der alles noch ohne Namen war: die Straßen, die Gewässer, wir selbst.“
Der Autor sammelt hier Erinnerungen:
„So schön wie Heidelberg trocknen nach dem Regen nur Städte, in denen Olivenbäume wachsen.“
Die ARAL-Tankstelle wird zum Treffpunkt der Jugendlichen, alle unterschiedlicher Herkunft, die hier aber nicht zählt. Der Ich-Erzähler ist als Schweigender, als Beobachter dabei.
„Die ARAL-Tankstelle war Heidelbergs innere Schweiz: neutraler Grund, auf dem die Herkunft selten einen Konflikt wert war.“
Zwischen Erinnerungen, Besuchen bei der Großmutter Kristina in Visegrad/Bosnien und Herzegowina Dialoge mit ihr über das Früher, ihren Mann, ihre Schwester, die Familie stehen Reflexionen über das Schreiben, das Erzählen an sich. Schöner habe ich das Vergessen von Menschen noch nie beschrieben gesehen:
„Großmutter ist siebenundachtzig Jahr alt und elf Jahre alt.“
Ihr Enkel erzählt von einem Damals und einem Heute, wobei auch das Heute immer wieder ins Damals kippt, sich vergewissern will, dass es wirklich so war. Haben die Eltern damals wirklich getanzt, hat der Vater wirklich mit einem Stein die Schlange erschlagen?
Es gibt das Heute, den eigenen kleinen Sohn, die Eltern, die heute ein gutes Leben führen, sich aber nie von den körperlichen Schädigungen der Schwerarbeit in Deutschland erholen werden. Es bleibt ihr Stolz, es bleiben die Erinnerungen, es bleibt viel Liebe in der Luft: Großväter, die Angeln, Väter, die wissen, wann sie abseits rauchen und still sein sollen, junge Männer, die sich verlieben und zu schreiben beginnen. Das Romanende lässt nicht los, man kann weiterlesen, man kann mit Oma Kristina weiter gegen das Verschwinden der Erinnerungen kämpfen, mit dem Ich-Erzähler einen Flieger versäumen und wer als Ende eine Beerdigung braucht, der/die bekommt sie auch.
Was Sie versäumen, wenn Sie diesen – 2019 mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichneten – Roman nicht lesen: Empathie, Erinnerungen, Reflexionen über Heimat, Heimaten, über Sprache, das Erlernen einer neuen Sprache, die Hürden dabei, viele starke Großväter, viele ebenso starke, wenn nicht sogar stärkere Großmutter, Poesie, die Erkenntnis, dass es nicht reicht, alphabetisiert zu sein.
Der Autor Saša Stanišić, 1978 in Visegrad geboren, lebt seit 1992 in Deutschland. Sein Debütroman „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ ist in 31 Sprachen übersetzt, für seinen (zweiten) Roman „Vor dem Fest“ erhält er den Preis der Leipziger Buchmesse.
Saša Stanišić
Herkunft.
Luchterhand 2019.
5. Auflage.
368 Seiten.
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at
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