Jetzt heißt es: Zehren vom Winterspeck der Erinnerung. Wie gut, dass ich noch in Stresa war.
Vor kurzem flatterte eine etwas verspätete Postkarte ins Haus: Grüße aus Los Cristianos. Sie kam wie aus einer tiefen Vergangenheit, die noch gar nicht lang her ist und doch unerreichbar fern: damals, als man noch nach Teneriffa fliegen konnte! Ich hebe diese Karte auf, sie ist mir teuer, ebenso wie Dinge, die mich an das „kurz Vorher“ erinnern. Froh bin ich auch um eine letzte Reise, die mich in der zweiten Februarhälfte von Mailand aus (ja!) durchs Tessin in die Schweiz führte. Ich war im Zweifel gewesen, ob diese Reise wirklich nötig sei, damals. Aber jetzt ist sie mir so wichtig. Ich habe in dem herrlich verfallenen Ort Stresa am Lago Maggiore gesessen für einen Tag, ich war in Bern bei schönstem Vorfrühlingswetter. In Luzern feierte man Fasching, und ich verbrachte die Zeit in einer Wohnung mit grandiosem Blick auf den Hausberg, den Pilatus, den ich zu zeichnen versuchte. Wie traumwandlerisch fuhr ich weiter über Zürich zurück nach Wien, und immer schienen kurz hinter mir die Türen zuzufallen. Aber ich war noch hindurchgeschlüpft. In Luzern hatte mir eine befreundete Modemacherin ein Halstuch geschenkt, das trage ich jetzt und denke an sie und ihr Geschäft, das die Krise hoffentlich gut überstehen wird.
Jetzt wird nichts Neues gekauft, keine Reise unternommen, jetzt wird gezehrt vom Winterspeck der Erinnerungen. In dem Blick auf das „kurz Davor“ liegt nicht nur nostalgische Sehnsucht, sondern auch eine tiefe Befriedigung: Das hab ich noch geschafft! Als hätte sich etwas durch den Zeittunnel hindurch gerettet: eine Zeichnung, ein Halstuch, Erinnerungen an Stresa und eine Postkarte.
Andrea Roedig
liebt das Hinausgehen ins Freie – zu Fuß und im Kopf. Wohnstatus: ohne Garten, ohne Terrasse. Aber die beiden Sitzkissen am Fußboden vor dem Fenster heißen „Balkon“ – immerhin. Sprache kann die Welt verändern.
Foto: Alexandra Grill