Schnell wird die Frage „Hat es sich überhaupt gelohnt?“ aufgeworfen, egal, ob sich um eine Entscheidung, ein Wort oder auch eine Tat handelt. Marceline Loridan-Ivens wirft diese Frage nicht beiläufig auf, sie meint sie existenziell. „Jetzt, da das Leben zu Ende geht, meinst du, dass wir gut daran taten, aus den Lagern zurückzukommen?“
Doch zurück an den Anfang, zu dem 15-jährigen Mädchen, das mit seinem Vater deportiert wird. Das 85-jährige Ich erzählt in Briefform von der Deportation, von der Internierung in Birkenau, den Leiden und dem mühsamen Aufnehmen des Lebensfadens nach der Befreiung aus dem KZ. Der Vater kam nach Auschwitz, wurde dort getötet, nein, er kam nicht um, er wurde ermordet. Geblieben ist einst dem Mädchen und jetzt noch immer der alten Dame ein Stück Papier, das ihr der Vater durch einen anderen Internierten zukommen ließ, auf dem stand „Mein liebes kleines Mädchen“. Hier ist eine genaue Biografin und Forscherin am Werk, sie stellt klar, dass die Bezeichnung Auschwitz-Birkenau nicht stimmt, dass die Männer von Auschwitz zu ihren Frauen, den Schwestern und Töchtern, die in Birkenau interniert waren, hinübersehen konnten und wussten, dass sie dort in den Gaskammern enden würden. Man spricht von drei Kilometern, die die Lebenden vom Tod, von ihrer Ermordung trennten. Der Vater, ein strenger und doch auch gütiger Mann, hatte seiner Familie ein Schloss gekauft, war erschüttert, dass sich seine Tochter in einen Jungen verliebte, der kein Jude war: Zwei Monate sprach er daraufhin nicht mehr mit seiner 15-jährigen Tochter, die im Begriff war, erwachsen zu werden. Wie wäre es weiter gegangen mit den beiden? Hätte der Vater ihre Männer akzeptiert?
Doch das reflektierende Ich, die 85-jährige Briefschreiberin gleitet nicht in diese Phantasie ab, ihre Erinnerungen sind jederzeit abrufbar, sind scharf und klar, ohne Pathos, ohne Selbstmitleid.
Wenn wir vorbeikamen, näherten sich einige hinter dem elektrischen Stacheldraht, wir murmelten Fragen, sie hatten ihre Kinder schon nicht mehr, aber sie wollten noch hoffen. Wir fragten sie: Habt ihr eine Nummer? Nein, sagten sie. Dann hoben wir die Arme zum Himmel als Zeichen der Hoffnungslosigkeit. Unsere Nummer war unsere Chance, unser Sieg und unsere Schande. Ich hatte am Bau des zweiten Bahngleises teilgenommen, das direkt zu den Gaskammern und zum Krematorium führte und auf dessen Rampe soeben ihre Kinder gestoßen worden waren. Und jetzt würde ich ihre Kleider sortieren.
Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Klarheit, packende Verzweiflung, gebrochene Tabus im Leben von Holocaust-Überlebenden, Weiterleben nach dem inneren Tod, Aufgerütteltwerden mit sanfter Hand und dringenden Fragen.
Die Autorin, 1928 als Marceline Rozenberg geboren, wurde im März 1944 deportiert. Sie hat zahlreiche Dokumentarfilme gedreht u. a. Birkenau und Rosenfeld – sie lebt heute in Paris.
Marceline Loridan-Ivens:
Und du bist nicht zurückgekommen.
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.
Berlin: Insel Verlag 2015.