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04-05/24

Ich lasse dich nicht

Ich lasse dich nicht

Eine Frau nimmt eine besondere Spurensuche nach der Stille und nach sich selbst auf.

Anna Michaelis ist eine Stille, eine Besonnene und liest nicht gern Emails. In Edinburgh sitzt sie in der Nationalgalerie vor einem Gemälde, ihren Mann hat sie in München zurückgelassen. Er hatte sie betrogen. Und sie sich? Ihr Mann, ein verdienter Oberstudienrat, war einmal kitschig impulsiv gewesen: Aber das alles war damals gewesen, als er vor Glück über das erste gemeinsame Kind taumelte und einem Bettelnden mehr Geld als dieser je erwartet hätte, gab. So hat Anna das alte Reihenhaus verlassen, ist nach Edinburgh geflogen, sie, die Betrogene. Er hat es ihr nach einem gemeinsamen Konzertbesuch ganz einfach so gesagt: „Sie wünscht sich ein Kind von mir.“

„Schockfrosten. Gefrierschockverfahren dienten der sensiblen Haltbarmachung von Lebensmitteln. Manchmal fielen Anna in schwierigen Situationen seltsame Wörter ein, die sie ablenkten und schützten. Sie glaubte dann mehr an die Wörter als an den Moment. Und dann war der Moment in seiner schlimmen Heftigkeit meist schon ein wenig vorbei. Bei mindestens minus achtzehn Grad, aber nur kurz, vielleicht zwei Minuten.“

Anna geht von Bild zu Bild, horcht an den Bildern: Die Bilder erzählen ihr ihre Geschichten, oft unsinnige Geschichten. Sie sieht glattes und rauhes Weiß, den Schatten des weißen Tellers auf der weißen Leinendecke. Manchmal störten Besucherinnen und Besucher die Stille und den Dialog, manchmal ist die Luft verbraucht, manchmal kann Anna die Bilder nicht hören. Da, jetzt spricht das Stubenmädchen. Warum malte er nicht seine Frau und als er es schließlich tat, warum nach einer Fotografie und nicht nach dem Leben?

Anna reist weiter, sitzt schließlich am Ufer vor der Kleinen Meerjungfrau in Kopenhagen. Ja, das kennen wir alle, die Figur ist so viel kleiner und zarter, als es uns die Postkarten glauben machen. Erinnerungen an den Altphilologen, Georg, ihren Mann, der ihr gute Wörter schenkte und ihr gemeinsames Leben dadurch spannend machte, na ja, nicht langweilig zumindest. Zwischen Ich-Perspektive und neutralerer Er-Sie-Perspektive entwickelt sich diese langsame Geschichte in vielen Facetten, wie ein Bild mit Vorder-, Mittel- und Hintergrund.

Hat einst das betronische Mädchen eines Gauguins-Gemäldes zu ihr gesprochen, es war in der Galerie in Edinburgh, sprechen jetzt immer mehr Menschen, echte Menschen, zu Anna. Kopenhagen, Boston, St. Moritz, Paris und schließlich wieder das dänische Skagen: Eine Reiseroute, eine Spurensuche, eine Ich-Findung. Sie erkennt, warum ihre Handarbeitslehrerin damals so viel lieber ihren lumpigen Bären als den perfekt von ihrer Mutter gestrickten gehabt hätte. Es war das falsche Gesicht, das ihm ihre Mutter aufgestickt hatte. Und dann ist da auch noch der Mann, die Distanz zu ihm und mitten im Wind kommen alle Geschichten wieder.

 

Angelika Overath:
Sie dreht sich um.
München: Luchterhandverlag 2014.

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  • Veröffentlicht: 26.11.2014
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