Gebrechliche Vorfahren zu pflegen, war einst moralische oder unausweichliche Pflicht. Heute gibt es 24-Stunden-Pflege und Pflegeheime. Sind die pflegenden Angehörigen die billigen Willigen der Nation?
Kalkuliert man nach der Abschaffung des Pflegeregresses einigermaßennüchtern, wie es uns die ökonomische Theorie ja auch nahelegt, kommt man zum Ergebnis, dass die Pflege daheim ein Verlustgeschäft ist. Vor allem für die Pflegenden selbst. Sie bekommen dafür in der Regel keinen Lohn, weil der Verpflegte beispielsweise nicht verpflichtet ist, sein Pflegegeld an die Betreuenden weiterzugeben. In manchen Familien kommt es auch vor, dass die Pflegeleistung nicht bei der Aufteilung des Erbes berücksichtigt wird und die ErbInnen, die nur zum Besuch vorbeigeschaut haben, genauso viel bekommen wie die rund um die Uhr Eingebundenen. Für die Pension kann eine Pflege zwar gutgeschrieben werden, ähnlich wie Karenzzeiten. Wenn aber beispielsweise für eine Pflege die Berufstätigkeit unterbrochen wird, ist nicht gesagt, dass ein Wiedereinstieg gelingt, ganz abgesehen von den enormen körperlichen und psychischen Belastungen, die eine Pflege mit sich bringen kann. Während es für professionelles Personal in einem Pflegeheim Freizeit und Urlaub gibt, sind für viele privat Pflegende alle Tage gleich lang. Vor allem auf dem Land sind Unterstützungsangebote wie Kurzzeitpflegeplätze rar. Häufig liegt es auch an den Pflegenden selbst, dass sie sich aus moralischer Verpflichtung oder falsch verstandener Verantwortung überfordern und erst im Burn-out für Änderungen bereit sind. Gerade in Zeiten politischer Wahlen werden die pflegenden Angehörigen allerorten gelobt, wohl in der Hoffnung, dass sie noch lange weitermachen. Denn schickten alle ihre Angehörigen in Pflegeheime, würde das System ziemlich schnell zusammenbrechen. Dabei wäre es, ökonomisch gesehen, für die Pflegenden günstiger, wenn ihre Angehörige oder ihr Angehöriger im Heim betreut würde. Die Familie müsste nichts „dazuzahlen“, sie käme in den Besitz des vollen Erbes und könnte, statt gratis zu pflegen, selbst einem Beruf nachgehen und so Vermögen aufbauen. De facto gibt es also in Österreich eine Zweiklassenpflege. Stimmt nicht ganz. Es sind sogar drei Klassen, denn viele Hilfsbedürftige werden von 24-Stunden-Pflegerinnen aus Osteuropa versorgt. Das ist eine Mischform, die Angehörige entlastet, das Wohnen in den eigenen vier Wänden für die Versorgten weiter möglich macht und finanziell zumindest für den Mittelstand gut leistbar ist. Kann und soll es so weitergehen in Österreich? Kann es sein, dass die pflegenden Angehörigen, die die schwerste Arbeit machen, am schlechtesten aussteigen?
Viele der daheim Pflegenden sind Frauen. Sie sind, einmal in der Situation gefangen, nicht mehr in der Lage und bei Kräften, sich auch noch politisch zu engagieren. Außerdem liege das vielen Frauen ohnehin nicht so, meinen sie zumindest. Wo aber kein Druck entsteht, passiert auch nichts. Was wäre nötig? Wenn die Statistiken und demografischen Berechnungen stimmen, werden wir in den nächsten Jahrzehnten einen deutlichen Anstieg an Menschen haben, die Pflege brauchen, aber einen deutlichen Knick bei jenen, die pflegen wollen. Da fehlen die Kinder, wenn es um private Pflege geht, und die Pflegekräfte, wenn institutionell gepflegt wird. Auch da schlägt ein „Frauenproblem“ durch: Pflegearbeit ist körperlich ungefähr so anstrengend wie Arbeit am Bau, wird aber weit nicht so gut entlohnt. Viele Pflegekräfte halten den Job auch nicht auf Dauer durch, weil die psychische Belastung zur körperlichen noch dazukommt.
Wenn man also über die Pflege der Zukunft nachdenkt, geht es nicht nur um das Erbe schonende und die Wahlen stimulierende Maßnahmen. Es braucht eine ernsthafte Debatte, was zu tun ist, damit pflegende Angehörige nicht unverhältnismäßig draufzahlen. Wir werden darüber reden müssen, wie Pflegeberufe besser entlohnt und attraktiver werden können. Und es wird nicht ausbleiben, dass wir eine Pflegeversicherung brauchen werden. Das geht zwar auch auf Kosten eines möglichen Erbes, ist aber konsequent. Die öffentliche Hand ist auf Steuern angewiesen. Wenn alle alles vererben, aber gleichzeitig aus Steuerleistungen so viel wie möglich bekommen wollen, geht sich das irgendwo nicht aus. Pflege kostet Geld. Ein Glück, wenn es Menschen gibt, die alte, bedürftige und kranke Angehörige pflegen. Man sollte ihnen den roten Teppich ausrollen und sie nicht nur mit Sonntagsreden, sondern mit Barem unterstützen. Sie werden trotzdem aus einer Art von Liebe pflegen, aber das Gefühl, irgendwo der oder die Dumme zu sein, wäre dann vermutlich weg.
Christine Haiden meint, dass die Situation pflegender Angehöriger von der Politik zu wenig ernst genommen wird.
Wer zahlt die Pflege?
- Mit der Abschaffung des Pflegeregresses wird künftig nicht mehr auf das Vermögen eines Pflegebedürftigen zurückgegriffen, wenn dieser in einer öffentlichen Einrichtung betreut wird und sein Einkommen die Pflegekosten nicht zur Gänze deckt.
- Menschen mit Betreuungsbedarf haben in Österreich Anspruch auf Pflegegeld. Bei Pflegestufe fünf werden beispielsweise 920,00 Euro bezahlt. Voraussetzung ist aber, dass die zu pflegende Person dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson braucht und mehr als fünf Pflegeeinheiten, davon eine auch in der Nacht.
- Unter bestimmten Voraussetzungen zahlt das Sozialministerium eine einwöchige Ersatzpflege zur Unterstützung pflegender Angehöriger.
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Erschienen in „Welt der Frau“ 11/17