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03/24

Haben Süchte ein Geschlecht?

Haben Süchte ein Geschlecht?

Tatsächlich geraten Frauen und Männer aus verschiedenen Gründen in Abhängigkeit, und sie gehen auch verschieden mit Suchterkrankungen um.

Zum Beispiel Daniela R. (33). Als sie vor eineinhalb Jahren ihre Tochter zur Welt brachte, erzählte sie niemandem im Krankenhaus von ihren Suchtproblemen. Das Neugeborene hatte Glück. Es zeigte keine Entzugssymptome. Die Drogen, die Daniela konsumierte, hatte sie auch während der neun Monate davor geheim gehalten. Dem Vater des Kindes, der eine flüchtige Bekanntschaft war, sagte sie nichts von der Schwangerschaft. Zu ihrer eigenen Familie hielt sie kaum Kontakt.

Danielas R.s Drogenkarriere begann nach dem Selbstmord eines Angehörigen, als sie 25 war. Anfangs bekämpfte sie den Schmerz und die Trauer mit Kokain und Speed, später kam Heroin dazu. Jahrelang wurde Daniela R. von der Sucht beherrscht, doch dann wurde der Impuls, ihr Leben für ihre kleine Tochter „in den Griff zu kriegen“, so stark, dass sie sich Hilfe suchte. „Eine Schwangerschaft ist ein entscheidender Punkt in einer Suchtkarriere“, sagt die Ärztin Jutta Korosec vom „Verein Dialog“, der seit über 35 Jahren individuelle Hilfe für Menschen mit Suchtproblemen und deren Angehörige anbietet.

Daniela R. ist eine ihrer Klientinnen. „Das ist die Phase in einer chronischen Erkrankung, die eine Sucht ja ist, in der die Karten noch einmal neu gemischt werden. Vieles kann sich in dieser Zeit zum Positiven entwickeln, aber auch zum Negativen.“ Eins sei ganz deutlich, sagt Jutta Korosec: „Da sind süchtige Frauen motiviert wie nie zuvor.“ Es ist ein geschlechtsspezifischer Aspekt, an dem die Suchttherapie von Frauen ansetzen kann.

Magersucht

Frauen: Unauffällig süchtig

Spielen sich Frauensüchte grundsätzlich anders ab als die Süchte von Männern? Neigen Frauen zu anderen Süchten? Gehen sie anders damit um? Wenn man bei ExpertInnen nachfragt, hört man eines immer wieder: „Frauen entwickeln generell eher Süchte, mit denen sie möglichst lange nicht auffallen und weiter funktionieren können“, sagt Andrea Schrattenecker vom Linzer „Institut Suchtprävention“. Ihr Ziel dabei sei es, „sich emotional zu stabilisieren und weiter ihre Aufgaben erfüllen zu können“.

Festgeschriebene Geschlechtsrollen prägen das Suchtverhalten von Frauen und Männern stark mit. Um das zu verdeutlichen, braucht man sich nur das Beispiel „Alkoholsucht“ anzusehen. „Lange Zeit war Alkoholkonsum stark männlich geprägt. Im Zuge der Emanzipation der Frauen haben sich die Trinkgewohnheiten der Geschlechter aber stark angeglichen. Der exzessive Alkoholkonsum als Folge von psychischen Problemen ist zwar bei Männern und Frauen ähnlich stark verbreitet, der exzessive Alkoholkonsum ohne psychische Grundprobleme ist aber nach wie vor primär eine Domäne der Männer. Frauen, die exzessiv trinken, fallen daher viel stärker auf“, sagt der Gesundheitspsychologe und Suchtforscher Alfred Uhl vom nationalen Gesundheitsforschungs- und Planungsinstitut „Gesundheit Österreich GmbH“, der auch Co-Autor des „Handbuchs Alkohol Österreich ist.

Primäre TrinkerInnen sind solche, die gewohnheitsmäßig zwischen dem 16. und 18. Lebensjahr in ihrem sozialen Umfeld zu trinken beginnen und dann – zumeist langsam und über viele Jahre – zu AlkoholikerInnen werden. Bei Männern überwiegt dieser Typus klar. Frauen sind zumeist vom sekundären Alkoholismus betroffen: Sie steigen später ein, werden schneller süchtig, und im Hintergrund ihres Alkoholismus steht meist eine psychiatrische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen.

„Frauen entwickeln generell eher Süchte, mit denen sie möglichst lange nicht auffallen und weiter funktionieren können! “

Fließende Grenzen zwischen Sucht und Genuss

Schätzungen gehen davon aus, dass in Österreich fünf Prozent der erwachsenen Bevölkerung über 15 alkohol­abhängig ist. Drei Viertel davon sind Männer, ein Viertel Frauen. Trinkende Frauen sind weniger sichtbar. Öffentlicher Rausch – welcher Art auch immer – wird bei ihnen viel stärker sanktioniert: „Frauen merken, dass man ihnen die Beeinträchtigung in der Öffentlichkeit mehr ankreidet als Männern. Daher kommt auch die Tendenz zur Heimlichkeit im weiblichen Suchtverhalten“, sagt Jutta Korosec.

Das ist nur einer der Gründe, warum Zahlen zu Süchten zumeist eher grobe Annäherungen sind als genaue Erfassungen des Status quo. Die Dunkelziffer ist ebenso schwer einzuschätzen wie die Definition dessen, wann die Grenze zu einer Sucht überschritten ist. Alfred Uhl verdeutlicht das am Beispiel des Rauchens: „Grob ein Drittel der österreichischen Bevölkerung raucht. Wie viele davon als süchtig zu bezeichnen sind, ist schwierig. Die Abgrenzung zwischen ‚Kann nicht aufhören‘ und ‚Will nicht aufhören‘ ist nur schwer zu ziehen.“

Ein Unterschied zwischen rauchenden Männern und Frauen scheint aber inzwischen klar. „Es gibt Hinweise darauf, dass Frauen stärker auf die stimmungsaufhellende Wirkung von Zigaretten ansprechen als Männer. Wegen dieser psychischen Abhängigkeit tun sie sich mit dem Entzug oft schwerer, obwohl ihre körperliche Nikotinabhängigkeit als geringer eingeschätzt wird“, erklärt Andrea Schrattenecker vom „Institut Suchtprävention“. 

Beim Thema „Alkohol“ weiß die geschlechtsspezifische Medizin, dass für Frauen andere Mengen als gesundheitsgefährdend gelten müssen als für Männer. 

Zigarettensucht

Stress als Suchtgrund

Weil Frauen weniger von den Enzymen produzieren, die im Körper für den Alkoholabbau zuständig sind, reichen geringere Alkoholdosen, um ihren Körper zu schädigen. Ein Liter Bier oder ein halber Liter Wein pro Tag gilt bei Frauen als die Gefährdungsgrenze. Bei Männern sind es 1,5 Liter Bier oder 3/4 Liter Wein pro Tag.

Wie Drogen und andere Suchtmittel vom Körper abgebaut werden, hängt auch von Körpergewicht und Fettanteil ab. „Natürlich macht es einen Unterschied, ob man einen 100-Kilogramm-Mann oder eine 50-Kilogramm-Frau vor sich hat. 

Man weiß, welche Faktoren eine Rolle spielen, aber die Gendermedizin ist noch nicht so weit, dass sie das im Detail auf die Wirkung einzelner Drogen oder Medikamente umlegen könnte“, sagt die Ärztin Jutta Korosec. 

All jene, die therapeutisch mit süchtigen Frauen arbeiten, zweifeln auch nicht an einem Zusammenhang zwischen Süchten und dem rollenwandelbedingten Stress von Frauen – auch wenn bisher keine Studien existieren, die diesen Konnex erforscht hätten. Man weiß, dass gerade Kokain und Amphetamine sehr häufig genommen werden, um sich fit zu machen. Auch Alkohol fungiert, wie es in einem „Publik-Forum“-Artikel über die oft verschwiegene Alkoholsucht von Frauen heißt, als der „Schmierstoff, der das alltägliche frustrierende Weiter-so erst möglich macht“.

Die Betroffenen steuern Leistungsfähigkeit und Abschaltvermögen mithilfe von Drogen und kämpfen damit gegen Erschöpfung an. Das gilt grundsätzlich für beide Geschlechter. Allerdings: „Die Belastungen für Frauen und Mädchen sind sicher enorm gestiegen. Sie haben jetzt zwar mehr Möglichkeiten, haben aber dafür nichts von ihren unbezahlten Aufgaben und Pflichten abgegeben. Süchte haben – zumindest anfangs – das Potenzial, diesen Vielfachbelastungen zu begegnen“, sagt Andrea Schrattenecker.

Schrattenecker kritisiert auch, dass es anders als etwa in den 1970er- oder 1980er-Jahren kaum mehr eine breite, öffentlich geführte Debatte über Feminismus, Emanzipation oder Geschlechterrollen gibt. „Das bedeutet, dass junge Mädchen es so, wie es heute ist, ganz normal finden. Und weil der gesellschaftliche Diskurs fehlt, suchen sie die Fehler immer bei sich selbst.“ Die Botschaft lautet: „Wenn du dich genug anstrengst, kannst du alles schaffen.“ Das ist aber nicht so. Man könne mit einigem Recht vermuten, so Schrattenecker, „dass das der Entwicklung von Süchten in die Hand spielt“.

AlkoholsuchtSüchte ohne Drogen: die weiblichen Süchte

Es gibt ein paar Süchte, bei denen Frauen die größte Gruppe der Betroffenen bilden: Bei Medikamentenabhängigkeit geht man von zwei Dritteln Frauen und einem Drittel Männer aus. Tablettenmissbrauch ist eher ein Problem älterer Frauen. Junge Frauen bis 35 hingegen sind es, die das Gros der Kaufsüchtigen stellen. Dabei handelt es sich, wie bei allen Verhaltenssüchten – von Onlinesucht über Spielsucht bis zu Essstörungen, wo sogar über 90 Prozent der Betroffenen Frauen und Mädchen sind –, um „Süchte ohne Drogen“, also um substanzunabhängige Süchte.

Eine Kaufsuchtgefährdungsstudie der Arbeiterkammer aus dem Jahr 2011 geht von einem „deutlichen Anstieg des kompensatorischen Kaufverhaltens“ aus und schätzt, dass 69 Prozent der Kaufsuchtgefährdeten Frauen sind. „Als kaufsüchtig gelten Menschen, die wiederholt und chronisch Sachen kaufen, die sie nicht benötigen, um damit innere Spannungen – etwa Depressionen oder Einsamkeit – zu lösen“, erklärt Werner Gross vom „Psychologischen Forum Offenbach“ in einem „Apothekenumschau“-Interview.

Der kurzen Shopping-Befriedigung folgen rasch Scham und Schuldgefühle. Nicht anders ist es bei Spielsucht. Hier liegt das Verhältnis Frauen zu Männer allerdings bei eins zu sechs. „Frauen fangen in der Regel erst ab Anfang 30 zu spielen an, entwickeln dann aber oft schneller spielbezogene Probleme. Das kennt man auch vom Alkohol“, erklärt die Psychologin Chantal Mörsen von der „AG Spielsucht“ der Berliner Charité. „Bei Männern geht es dabei meist um den Kick und um Anerkennung. Bei Frauen ist das häufigere Motiv, dass sie durchs Spielen ihren Problemen zu entkommen hoffen.“

Angst vor dem Stigma

Die oft gehörte Aussage, dass Frauen rascher als Männer professionelle Hilfe für ihre Probleme suchen und annehmen, muss für Frauensüchte leider etwas relativiert werden: „Frauen suchen nur dann früher Hilfe, wenn es um Süchte geht, die nicht stigmatisierend sind, sagt Andrea Schrattenecker vom „Institut Suchtprävention“. Eine wichtige Rolle spielt dabei – vor allem im Zusammenhang mit Kindern – , mit den Behörden Schwierigkeiten zu bekommen. Daniela R. hat diese Angst überwunden: Es gab auf ihrem langen Weg aus der Drogensucht die Phase, in der das Jugendamt überprüfte, ob sie die Obsorge für ihre kleine Tochter würde behalten können oder nicht.

Aber Daniela R. hat es geschafft. Inzwischen gilt die 33-Jährige, die in einem Drogenersatzprogramm ist, alle Kontakte zur Szene abgebrochen hat und einen Personalverrechnungskurs besucht, als „suchtmedizinisch und psychisch“ so stabil, dass sich das Jugendamt langsam aus der Betreuung von Mutter und Kind zurückzieht. 

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  • Veröffentlicht: 07.10.2021
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