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09/24

Grandma Gatewood: Alleine durch die Appalachen

Grandma Gatewood: Alleine durch die Appalachen

Nach harten Jahrzehnten als Bäuerin, elffache Mutter und Opfer von häuslicher Gewalt hat Emma Gatewood genug. Mit 66 Jahren wandert sie alleine 3.500 Kilometer durch die US-amerikanischen Appalachen – und wird unterwegs zur Pionierin und „Grandma“ der Nation.

Emma hört nur das Klopfen ihres Herzens, ihren keuchenden Atem und das Rascheln der Blätter unter ihren Füßen. Das Geschrei ihres Mannes ist endlich hinter ihr verstummt, und der Wald streckt im Halbdunkel die Blätter nach ihr aus. Sie steigt über Wurzeln und Steine, lehnt sich schließlich an den dicken Stamm eines Baumes und atmet tief durch. Hier gibt es keinen gewalttätigen Ehemann, keine elf Kinder, die beständig nach ihr rufen, und keine Felder voll Tabakpflänzchen, die von ihr gehegt werden wollen. Im Wald ist es ruhig und friedlich. Emma folgt mit dem Augen einem Pfad, der in der Dämmerung verheißungsvoll im Dickicht verschwindet. Irgendwann, sagt sie sich, wird sie einfach gehen.

Harte Jahrzehnte

Im Herbst 1887 wird im US-Bundesstaat Ohio ein Mädchen namens Emma in eine bitterarme Familie geboren. Die Mutter sorgt allein für die Kleine und ihre vierzehn Geschwister – denn der Vater, ein verletzter Veteran, verbringt seine Zeit lieber mit Glücksspiel und Alkohol. Emma kann nur wenige Jahre die Schule besuchen, doch sie ist ein neugieriges und gewitztes Kind. Sie liest alles, was ihr in die Finger kommt, und streift so oft sie kann durch den Wald.

Als Jugendliche lernt sie P.C. Gatewood kennen. Er ist Lehrer, acht Jahre älter als sie und hat eine Universität besucht, eine Besonderheit in ihrem winzigen Dorf. Nun will er einen Bauernhof gründen und Tabak anpflanzen. Als Emma neunzehn Jahre alt ist, heiraten die beiden. Doch schon bald nach der Hochzeit beginnt P.C., seine Frau zu schlagen.

Immer wieder flieht Emma in den nahen Wald, weil sie um ihr Leben fürchtet. Zudem muss sie auf der Tabakfarm schuften, den Haushalt führen und für die elf Kinder sorgen, die sie zur Welt bringt. Über drei Jahrzehnte lebt sie so. 1939 versucht P.C., ihr die Schuld für seine Gewaltexzesse zuzuschieben und sie verhaften zu lassen. Doch der Bürgermeister des Dorfs weiß um Emmas hartes Schicksal und nimmt die Verletzte auf. Mit seiner Unterstützung reicht sie die Scheidung ein – das kommt damals kaum vor und wird noch seltener von Gerichten gestattet.

Zu Fuß durch die Appalachen in die Freiheit

Doch nachdem Emma aussagt, wird die Scheidung bewilligt. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist sie frei. In einem Magazin liest sie einen Artikel über den Appalachian Trail, jenen legendären Fernwanderweg, der über 3.500 Kilometer durch das Appalachen-Gebirge und vierzehn US-Bundesstaaten führt. Es ist ihr alter Traum: Einfach losgehen, mitten in den Wald hinein, den einzigen Ort, an dem sie Ruhe findet. 1954, da sind alle ihre Kinder selbstständig und Emma bereits 66 Jahre alt, versucht sie es. Sie verirrt sich im Wald, braucht all ihren Proviant auf und zerbricht zu allem Überfluss noch ihre Brille. Nach einigen Tagen bringen Parkwächter sie zurück nach Hause. Doch Emma ist zäh.

Ein 3.500 Kilometer langer Spaziergang

Im Jahr darauf sagt sie ihren Kindern, dass sie einen Spaziergang machen werde. Sie näht sich eine Tasche und packt Proviant, ein wenig Kleidung und ein Notizbuch ein. Emma hat weder ein Zelt noch einen Schlafsack dabei, nur einen alten Duschvorhang als Regenschutz. Sie wandert den ganzen Sommer lang, von Georgia im Süden nach Maine im Norden. Findet sie keinen Unterschlupf, schläft sie im Wald, und hat sie nichts zu essen, sammelt sie Beeren, Wurzeln und Kräuter. Schon bald werden die Leute auf die resolute alte Dame aufmerksam, die alleine und mit leichtem Gepäck das Gebirge durchquert.

Noch während sie unterwegs ist, erscheinen in Zeitungen und Magazinen Berichte über „Grandma Gatewood“. Als sie im Herbst 1955 das Ziel des Trails erreicht, ist sie im ganzen Land bekannt. Vom Berggipfel blickt sie über das Land und sagt: „Ich habe es getan. Ich habe gesagt, ich würde es tun, und ich habe es getan.“

Ich habe es getan. Ich habe gesagt, ich würde es tun, und ich habe es getan.

Nach ihrem Erfolg wird Grandma Gatewood in Zeitungen interviewt und in Fernsehsendungen eingeladen, erhält Preise und zahlreiche Auszeichnungen. Sie setzt sich für die Erhaltung des Appalachian Trail ein, der damals zugewuchert und verkommen ist, und geht ihn 1957 und 1964 noch einmal. Damit ist sie die erste Person, die den Trail dreimal wanderte, und die erste und älteste Frau, die ihn alleine bewältigt hat. Mit achtzig Jahren beginnt sie, jährliche Wanderungen zu veranstalten, auf denen sie Tausende begleiten. Im hohen Alter schlägt die Wanderpionierin in ihrer Heimat noch einen fast fünfzig Kilometer langen Pfad frei, der später ans Wegnetz angeschlossen wird. Als Emma „Grandma“ Gatewood im Juni 1973 stirbt, ist sie über 23.000 Kilometer gewandert. Nach ihr sind Wanderwege, Lieder und Denkmäler benannt. Ihr Grabstein trägt die simple wie liebevolle Widmung „Grandma“.

Ricarda OpisRicarda Opis

wurde 1996 in Graz geboren und studierte ebendort Journalismus und Public Relations (PR). Sie erzählt am liebsten die Geschichten von Frauen und Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Für diese Serie verbindet sie ihre beiden größten Leidenschaften, indem sie die Geschichten großer Frauen nicht nur erzählt, sondern auch bebildert. Wenn sie nicht gerade schreibt oder zeichnet, begeistert sie sich für alles, was sonst noch kreativ ist, und die Geschichte, Kulturen und Politik des Nahen Ostens.

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  • Veröffentlicht: 20.07.2021
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