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04-05/24

Gibt es überhaupt noch Zufallsbekanntschaften?

Gibt es überhaupt noch Zufallsbekanntschaften?

Anna Kim verfolgt Faber, den Protagonisten aus Max Frischs „Homo Faber“: Sie verfolgt mit diesem Erzählexperiment, der Neuerzählung, mit ihren LeserInnen eine Zeitreise zu beginnen. Das GPS-Signal seines Smartphones spürt ihn auf, alles wäre anders, weniger verworren, dem Zufall geschuldet: Niemals hätte er dann seine leibliche Tochter anziehend gefunden, in seinem Nichtwissen um deren Identität. Sabeth und er hätten niemals eine Beziehung gehabt, die digitalen Warnung vor diesem Inzest hätten 100-prozentig gewirkt. Kein Leid also, keine vermeintliche Unschuld, kein Roman, das auch.

Die Autorin verlässt Faber und beginnt nach Privatheit contra Öffentlichkeit, nach Abhörskandalen und Einbrüchen in die Privatsphäre zu fragen. Sie beschreibt unsere Welt, in der Transparenz ein hohes Gut und gleichzeitig nahezu ein Diktat ist: Alles, was aus der Reihe tanzt, ist bedrohlich, die gleichgeschaltete Gesellschaft stabilisiert das System. Wie das gelingt?

Ein Symptom: die Rankings. Es begann harmlos, die ersten Top-10-Listen, die schon immer, allerdings am Rande, eine Rolle spielten, vermehrten sich, aus der einen Bestsellerliste wurden viele Bestenlisten, aus den Rezensionen wurden Ein-satz-Zusammenfassungen, deren Sterne-Über oder Unterschrift mittlerweile wichtiger ist als die Worte; diese müssen sich den Sternchen unterordnen bzw. die Sterne sind es, die den Worten Gewicht verleihen oder entziehen.

So ist jeder Richter und Richterin, votet, bewertet, sternt hin und sternt zurück. Kim zeigt, dass die Internetgesellschaft von Egalität geprägt ist, sie sei keineswegs pluralistisch, bestimmt durch Sternchen und Likes. Diese Positivgesellschaft – Facebook habe sich ja konsequent geweigert, den Dislike-Button einzuführen – setzt auf fortwährenden Kommunikationsfluss, jede Negativität stört, hindert. Auch sei, so die Autorin, jeder und jede, die sich nicht bloßlegt, verdächtig. Es reicht nicht mehr, zu sein, zu arbeiten, zu leben.

Einschränkung darin, wer wir in sind, sein wollen und das auch noch sein könnten, belegt diese Chronik der Aufhebung der Privatheit, der Privatsphäre. Privat wird es im Essay „Der unsichtbare Feind II“ dieser Essay-Sammlung. Wollten die Eltern, die ihr den Namen Anna gaben, aus ihr eine Europäerin machen, warum sonst haben sie auf einen koreanischen Vornamen verzichtet. Und dann lasen sie ihr noch die Märchen der Gebrüder Grimm vor. Hier mit Bären, Hexen und Stiefmüttern, während koreanische Märchen Tiger, Drachen – und ja, richtig, auch hier Stiefmütter in die Bewährungsproben dieser Textsorte schicken. Dann der Vater, der auf der Couch sitzend, Verben konjugiert, dann die Erkenntnis „Ich war schon als Kind Elternteil meiner Eltern“. Wie wird die Mutter-, die Elternsprache, Koreanisch, zur Schattensprache? Weil das Kind, das sein Kindsein verteidigt, als Dolmetscher herhalten muss, jede Übersetzung die Kindheit verkürzt hat?

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Philosophie, Misstrauen gegenüber allem Gesterne, den Likes, Nachdenken über Kindheit, über Schattensprachen, über Privatheit und deren Bedrohung.

 

Die Autorin ist 1977 in Daejeon in Südkorea geboren und 1979 mit der Familie nach Deutschland übersiedelt, sie hat in Wien Philosophie und Theaterwissenschaften studiert. Ihr Roman „Anatomie einer Nacht“ (2012) zeigt Abgründe, Hoffnungen, Schicksale und viele Schattengeschichten.

 

 

Dieser Essay-Band ist in der Reihe „Unruhe bewahren“ im Residenz Verlag erschienen.

 

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  • Veröffentlicht: 10.06.2015
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