Weniger die Religion an sich als die Haltung des evangelisch-freikirchlichen Pastor-Vaters – ich weiß jetzt nicht genau, was evangelisch-freikirchlich ist, vermutlich eine heftige Schärfung! – prägt die Kindheit von Matthias Röhricht und seiner Schwester Adele. Diese Tyrannei ist so heftig und die Beziehung dermaßen lieblos, dass sie gleich mehrere Stimmen braucht, um sie Fragment wie Fragment zu erzählen. Mit jeder Erzählerin – die Mutter, die Schwester, die Cousine, die Ehefrau – wird die Düsternis dieser Unterdrückung neu und mit anderer Perspektive ausgeleuchtet. Gleichmütig tropfen die Erzähltöne in unsere Ohren, nach außen ist alles gut, alles sauber, alles in Ordnung. Wut trägt hier Sonntagskleidung, ordentlich, sauber: Etwa dann, wenn Gitti, die Ehefrau von Matthias Röhricht das Licht auf ihre finsteren Beziehungsecken lenkt.
Schon lange nennt sie den Ehemann nicht mehr Matti, sondern Röhricht; vorbei die Liebe, das Verliebtsein. Zu viele Assistentinnen hat Röhricht mit auf seine erfolgreichen Reisen an der Spitze eines Weltkonzerns genommen. Aber stets ist Gitti mit den beiden gemeinsamen Kindern zu den Family-Treffen in die USA gereist, so wollte es die Konzernleitung und ein Matthias Röhricht macht immer, was ihm ein starker Mann befiehlt. In der Nacht verzweifelt, bei Tage betörend: So erlebt Gitti, die jetzt doch einen Buchhaltungskurs gemacht und ein Zimmer als Arbeitsraum eingerichtet hat, ihren Mann. Schließlich zieht er ans Meer, an den Atlantik, die Kinder werden hingehalten, selten kommen Briefe von Röhricht. Doch, einer prägt sich Gitti ein: Die Kopie der Hass-Predigt an seinen Vater. Wie habe er seine Ehefrau als „sündig“ bezeichnen können. Der Vater antwortet kalt, kurz und abweisend, doch Gittis Mitleiden ist erschöpft. Ähnlich ergeht es Röhrichts Schwester, auch sie, Adele, hat nach dem Tod des Pastors noch eine Abrechnung mit ihrer Mutter vor sich. Doch hier tauchen andere Nuancen auf, ist sie nicht aus Polen geflüchtet? Hat der Pastor diese Beziehungen nicht stets unterbunden? Vater Vau und Mutter Jad: Dieses Gespann hat zwei Kinder dermaßen unterdrückt, dass sie zuerst in Bravheit und dann, erwachsen geworden, im Hass auf die Eltern zu ersticken drohen. Solidarität miteinander: Das ist nicht möglich, davon erzählen auch politische Systeme, jeder kämpft hier gegen jeden, sonst bräche das Mitgefühl durch, die Trauer käme hoch, dann lieber Geschwisterkampf!
Das Hätscheln genießt sie und wird unwirsch, wenn ich sie zu lange allein lasse, um zu kochen und aufzuräumen. Lassen Sie die Küche doch verludern! Früher war Jad eine penible Hausfrau. Hatte ich die Wäsche nicht in der bestimmten Ordnung aufgehängt, nahm Jad die nasse Wäsche wieder ab. Unterhose muss neben Unterhose, Geschirrtuch neben Geschirrtuch.
Jad, die Mutter, taucht noch einmal als junges Mädchen auf, das 1945 aus Polen fliehen musste, da sie einst für die Deutschen und nicht für die Polen votierte: Auch Jads Familie ist zerrissen, ihr Bruder hat ihr diese Entscheidung nie verziehen. Wiederholung also und doch ist der Roman keine ermüdende Familienaufstellung, sondern ein feinsinniges Ermittlungsverfahren, das den Staub von den Erinnerungen wegbläst. Mit jeder Erzählstation lichtet sich die Schicht, die Verkrustung. Jad hat also einmal geliebt, einen NS-Flieger; diese Liebe blühte neben dem Ghetto von Lodz, direkt an der Bahnlinie ins Vernichtungszentrum Kulmhof, davon habe sie nie etwas gewusst. Der Erzählkreis schließt sich, Deli – Adele – wird am Ende des Buches gebeten, ihre Kindheitsgeschichte zu erzählen, sie beginnt: Am Morgen sinkt das Gebet des Vaters auf Kakao und Haferflocken, mittags schliert es in die Suppe.
Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Hintergründe, den Zauber der Geschichten, das Grauen verdrängter Gefühle, Verlassenheit, Zerrissenheiten, Lebenslügen, Glaube als Schutzanzug, Glaube als Anmaßung, falsch verstandener Glaube, die Gelegenheit, eine Familiengeschichte wie ein Familienfoto zu betrachten und unterschiedliche O-Töne dazu zu hören.
Die Autorin, 1957 in Freiburg im Breisgau geboren, arbeitet seit 2001 als freie Autorin, war vorher Redakteurin, Journalistin und Wissenschaftslektorin. Für das vorliegende Buch erhält sie den Rauriser Literaturpreis 2016.
Hanna Sukare:
Staubzunge.
Roman.
Salzburg: Otto Müller Verlag 2015