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Kinderbuch: Freiwillig in Quarantäne?

Kinderbuch: Freiwillig in Quarantäne?

Literatur-Nobelpreisträgerin Olga Tocarczuk hat zu Bildern von Joanna Concejo eine Geschichte erzählt, die wie ein Märchen beginnt: Es war einmal ein Mann, …

… der hat immer sehr viel und sehr schnell gearbeitet, hat in vielen Hotelbetten geschlafen. Eines Nachts wacht er auf, bekommt keine Luft mehr und weiß nicht, in welcher Stadt er ist, hat sogar seinen Namen vergessen. An diesem Punkt angelangt sucht er eine alte Ärztin auf. Sie gibt ihm den klugen Rat, er möge einen Platz finden – ganz für sich –, sich hinsetzen und in aller Ruhe warten. Denn er hätte seine Seele verloren. Es könne zwar dauern, bis sie zu ihm zurückkehrt, doch ein anderes Heilmittel sähe sie nicht.

Und so zieht sich der Mann, Jan heißt er, in ein Haus am Stadtrand zurück und begibt sich freiwillig in Quarantäne. Eine Transparentpapierseite macht seinen Kurswechsel greifbar. Nun kehrt Ruhe ein. Von hohen Bäumen umgeben wachsen die Topfpflanzen im Haus genauso wie seine Haare und sein Bart, bis er ihm „bis zum Gürtel“ reicht.

Joanna Concejo begleitet den märchenhaften Erzählton, der auch Tocarczuks Werke für Erwachsene auszeichnet, mit zarten Bleistift- und Buntstiftzeichnungen. Nur in Schwarz-Weiß und Grauabstufungen eröffnet sie wie im Vorspann eines Filmes die Handlung mit ihren Bildern. Doppelseiten zeigen eine Winterlandschaft, einen Park mit kahlen Bäumen und einem Teich mit Schlittschuh laufenden Kindern.

Vielleicht sehen wir einen Rückblick in Jans Kindheit? Auf einer Parkbank teilen sich zwei Kinder ein Paar Handschuhe. Einer der beiden mit Sternen bestickten Wollfäustlinge taucht auf der Rückseite des Buches wieder auf. In der Mädchenfigur im karierten Mantel ließe sich die zurückkehrende Seele wiedererkennen. Ein möglicher Bogen, der von der Kindheit bis ins Alter gespannt werden kann, wenn wie daran denken, dass wir unsere Seelen seit unserer Geburt in uns tragen.

Jan sitzt tagein tagaus am Tisch und blickt hinaus in die Natur. Die aufeinanderfolgenden rechten Bildseiten zeigen ihn wie er etwas in ein Heft notiert, Tee trinkt, zu sich kommt Er nimmt seine Umwelt nicht mehr oberflächlich wahr. Hirsch und Hase kommen in seinem Bewusstsein so nah heran, dass er sie als Gäste an seinem Tisch sieht. Auf den linken Seiten sehen wir Szenen wie rückgeblendete Erinnerungen. Wir sehen ein Kind allein in der Dämmerstunde vor einem Wohnhaus mit erleuchteten Fenstern oder in einem Café vor einem Eisbecher allein am Tisch sitzen. Auch fröhliche Bilder mit tanzenden Paaren in freier Natur oder Kindern am Strand sind dabei. Der Nebel, in dem die Erinnerungen an die Vergangenheit versunken sind, lichtet sich mit einer zweiten Transparentpapierseite.

Die liegt zwischen dem Bild der zurückkehrenden Seele, die als kindliche Figur von außen durchs Fenster zu Jan hereinguckt und ihm, der einen Blumentopf mit einer rankenden Kapuzinerkresse auf seinem Schoß hält, hinter der er sein Gesicht verbirgt. Eine zaghafte Begegnung und ein vorsichtiges sich wieder Annähern, das einem Treffen zwischen alten Freunden gleichkommt.

Die Geschichte endet so märchenhaft wie sie begonnen hat. Jan vergäbt all seine Uhren und Koffer im Garten, die daraus keimenden Pflanzen tragen Früchte, die ihn in all den Wintern, die noch kommen, gut nähren. Üppig wuchernde und blühende Kapuzinerkresse erfüllt die Seiten des Bilderbuchs.

Für eine gemeinsame Betrachtung mit Kindern ab 5 Jahren ist das Buch besonders geeignet. Gespräche über unsere Verbundenheit mit der Natur, über das Tempo unseres Lebens, über die Harmonie zwischen Körper, Geist und Seele rücken unseren Umgang mit uns selbst zurecht. Gerade in unserer Ausnahmesituation in der „Corona-Virus-Zeit“ bietet Tocarczuks Geschichte wertvolle Sichtweisen auf unser Dasein. Und es macht vielleicht Lust, alte Familienfotos auszugraben und von Erinnerungen an vergangene Zeiten zu erzählen.

Außerdem gibt’s dazu eine Video von Veronika Mayer-Miedl (für die Buchhandlung ALEX):

Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk hat gemeinsam mit Joana Concejo ein wunderschönes Bilderbuch gestaltet (ab 5-99 J.).Darin begibt sie sich freiwillig in Quarantäne, zieht sich in ein Haus am Stadtrand zurück, sitzt am Tisch und trinkt Tee … und sieht den Pflanzen beim Wachsen zu.Eine Anregung, gemeinsam mit euren Kindern Samen in die Erden zu legen: Pflanzt Kapuzinerkresse!Die verlorene SeeleOlga Tokarczuk und Joanna Concejo€ 22,60

Gepostet von Buchhandlung ALEX am Montag, 30. März 2020

Olga Tokarczuk (Text) und Joanna Concejo (Bild):
Die verlorene Seele
Kampa Verlag 2019
5-99 Jahre

> Weitere Informationen

Veronika Mayer-MiedlVeronika Mayer-Miedl

wurde 1971 geboren, ist Buchhändlerin, Mutter von 3 Kindern und lebt in Ottensheim, wo sie 17 Jahre im Kleinen Buchladen tätig war. Ein Fernkurs für Kinderliteratur an der „STUBE Wien“ war wegweisend. Glückliche Begegnungen bei Seminaren im „Kinderbuchhaus im Schneiderhäusl“ inspirierten zu Bilderbuch-Stunden für Eltern-Kind-Gruppen, zu Literaturvermittlung für Vorschulkinder und zu Referententätigkeit für Kindergartenpädagogik. Aktuell rollt sie mit Eisenbahn oder Fahrrad die Donau entlang nach Linz, wo sie als Mitarbeiterin der Buchhandlung ALEX am Hauptplatz Bücher empfiehlt, die auf den zweiten Blick noch Überraschendes bereithalten. Mit ihrer Freundin vom Figurentheater [isipisi] teilt sie die Leidenschaft für das japanische Erzähltheater „Kamishibai“ und gibt Vorführungen in Bibliotheken, Kindergärten und Schulen. Fallweise tritt sie als Grille, rebellische Juliane oder sogar Meerjungfrau auf.

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  • Veröffentlicht: 11.04.2020
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