Mojgan tut viel gegen den Willen ihrer Familie, sie trifft sich mit ihren Freundinnen in Parks, widersetzt sich ihrem Bruder, der ihr Leben bestimmen will. Sie beharrt auf ihrer Liebe, auf diesem Mann, der sie später misshandeln wird, der den liebevollen Vater gibt und manchmal wohl selbst daran glaubt, ein liebevoller Ehemann und Vater zu sein. Wenn Frau und Tochter das machen, was er fordert, bekommen sie Zuwendung und Zärtlichkeit. Andernfalls beginnt Madjid, Mojgans Mann, sie zu quälen, sie beispielsweise gar zu zwingen, sich die Abschlachtung eines Hundes im Fernsehen von einer DVD anzusehen: So, so könnte es ihr doch auch bald gehen. Die junge Frau will sich umbringen, so will sie auf keinen Fall mehr weiterleben. Ein Selbstmordversuch scheitert kläglich, schließlich hat ihr eine gute Freundin bloß ihre Grippetabletten gegeben und nicht die tödliche Reistablette. Reistabletten sind mit Pestiziden versetzt, die Schädlinge fernhalten soll, ist sie nicht selbst ein Schädling, passt daher der Tod durch die Reistablette zu ihr? In 13 Kapiteln begleiten wir die Protagonistin auf ihren Fluchten aus dem Alltag, zuerst die Flucht zu den Eltern und von dort weg in das Häuschen am Kaspischen Meer. Sie plant ihren Selbstmord, sie erkennt, dass sie nach den Gesetzen ihre Landes nie wieder eine freie Frau sein wird, da ihr Noch-Ehemann immer wieder gegen das Scheidungsurteil berufen darf.
Die Scheidung der Protagonistin ist auch nach zwei Jahren noch immer nicht rechtskräftig: Daher bewahrt sie die Reistablette, die wohl den sicheren und qualvollen Tod bringen soll, als Art Todes- oder doch als Lebensversicherung auf. Sie will im Kampf gegen das Patriarchat nicht ihre Weiblichkeit verleugnen, sie will sich weder schwach und hilflos fühlen müssen: Sie ist einen schmalen und dunklen Pfad gegangen, ihre kleine Tochter wurde gemobbt, sie selbst wurde von anderen Frauen verspottet. Doch sie weiß auch, wohin sie dieser düstere Weg brachte: in eine gewisse Freiheit und in eine Selbstvergewisserung, kein hilfloses Wesen zu sein, über das Männer zu bestimmen haben. Wenn im Kapitel 9, sein Titel lautet „Marienkäfer“ von Hannaneh, die aus Theheran zu Besuch ist, die Rede ist, zeigt die Autorin an deren Beispiel die leise Seite der Unterdrückung: Unter dem Tschador kämpft Hannaneh mit Tradition und Moderne, auch mit Religion und Freiheitswillen, sie ist nach außen fröhlich, nach innen abgestumpft. Da tauchen auch die Erinnerungen an so manche Streiche auf, als junge Mädchen haben sie sie ausgeheckt und dabei Zigaretten geraucht. Zwischen diesen Sequenzen der Aufmüpfigkeit tauchen immer Szenen der Unterdrückung und der Anpassung auf, der Überlebenswille wächst, der Widerstand blüht neu auf.
Man kann niemanden am Kragen packen und Vernunft von ihm fordern. Wie an jenem Tag, als mich der Richter in dem Misshandlungsprozess anlachte und, obwohl der Gerichtsmediziner hundert blaue Flecken an hundert Stellen meines Körpers bestätigt hatte, zu mir sagte: Woher soll man wissen, dass ein Ehemann dich geschlagen hat? Es könnte auch dein Vater gewesen sein.
Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Zeitgeist im heutigen Iran, Widerstand einer mutigen Protagonistin gegen Zwänge, auch gegen Zwänge, die andere Frauen ausüben, Auseinandersetzung mit der Frage „zerfleischen“ oder „zerfleischt werden“ nicht nur bei Elternabend, auf den Straßen, in den Hinterhöfen, Auseinandersetzung mit struktureller systemimmanenter Gewalt.
Die Autorin, 1981 in Teheran geboren, studierte Design, Architektur und Innenarchitektur; schrieb für diverse Zeitschriften und Zeitungen, verfasste Erzählungen, Drehbücher und Theaterstücke; ihr Lyrikband „Die Passanten am trübsinnigen Fenster“ erschien 2013 im Adineh Verlag; sie schreibt stets gegen Zensur und Selbstzensur an.
Mojgan Ataollahi:
Ein leichter Tod.
Roman.
Aus dem Persischen übersetzt von Susanne Baghestani.
Wien u. a.: Residenz Verlag 2015.