Aktuelle
Ausgabe:
Bewegung
04-05/24

Franziska finde ich toll

Franziska finde ich toll

Im Homeoffice Menschen kennenlernen? Das geht sehr wohl, sogar, wenn sie schon unter der Erde liegen.

Um die eigene Lebenseinstellung zum Positiven zu wenden, solle man regelmäßig abends vor dem Schlafengehen drei schöne Erlebnisse des Tages aufzählen, heißt es. Ich tue das hin und wieder, und dabei fällt mir auf, dass die guten Dinge oft mit anderen Menschen zu tun haben: X zum Mittagessen getroffen, spazieren gegangen mit Y, gutes Gespräch gehabt mit Z, ein Lob bekommen von XYZ. Aufgrund der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen sehen die Tagesrückblicke im Moment also etwas dürftig aus. Was tu ich hinein in mein Gutes-Kästchen am Abend? Es kommt schon vor, dass ich zur Not auf „ein schmackhaftes Brot mit Ei gegessen“ zurückfalle oder neulich: „Post von Onkel Gregor aus Deutschland bekommen“. Der hat unter selbstauferlegter Quarantäne viel Zeit gerade und, weil wir ausführlich über Familiengeschichte gesprochen hatten, mir jetzt einen Packen mit alten Originalfotos geschickt. Aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts stammen sie und zeigen unter anderem Pferdekutschen vor der Metzgerei „Erkelenz-Roedig“ in der Düsseldorfer Lorettostraße. Unter den Fotos war auch ein Portraitbild meiner Urgroßeltern, die ich nie kennengelernt habe, und wie soll ich sagen: Urgroßmutter Franziska Erkelenz finde ich klasse. Ich kannte nicht viele Geschichten von ihr, nur dass sie – eine dominante Dame, „geborene Frings“ – immer drei Sitzplätze in der Kirchenbank für sich beansprucht habe, weil sie mit ausgebreiteten Armen zu beten pflegte. Aber hey, jetzt schaut sie mich vom Foto aus an auf eine Weise, die berührt. „Coole Frau“, denke ich, „und echt MEINE Urgroßmutter“, als stärke sie mir den Rücken.
Ob das stimmt, ist nicht so wichtig, gerade weil ich sie nicht kannte, darf ich sie unbeschwert nett finden. Über meine Urgroßeltern habe ich dann noch mehr erfahren. Franz Erkelenz mochte Pferdewetten, die Metzgerei hat das Paar sozusagen aus dem Nichts heraus aufgebaut und es führte eine ungewöhnlich liebevolle Ehe. „Kutschi und Mutschi“ nannte man meine Urgroßeltern, weil sie auch nach der goldenen Hochzeit noch Händchen haltend nebeneinander im Bett lagen. Das erzählt Tante Burga aus Düsseldorf, mit der ich dann auch noch telefoniert habe. „Post bekommen“ – ich finde, das kann als gutes Tageserlebnis gelten.

Andrea Roedig

liebt das Hinausgehen ins Freie – zu Fuß und im Kopf. Wohnstatus: ohne Garten, ohne Terrasse. Aber die beiden Sitzkissen am Fußboden vor dem Fenster heißen „Balkon“ – immerhin. Sprache kann die Welt verändern.

Foto: Alexandra Grill

  • Teile mit:
  • Veröffentlicht: 06.04.2020
  • Drucken