Wer zu dieser Familie gehört, der ist nie mehr allein. Diese Familie muss so sein: laut, wirr, einmischend, fürsorglich, bevormundend, unausstehlich, abenteuerlich, kritisch gegenüber neuen Mitgliedern. Ella, die nach dem Tod ihres Mannes mit vielen Büchern und Erinnerungen sowie dessen rumänischer Pflegerin Rada in der doch sehr großen Wohnung lebt, will Neues fühlen, erleben, erkennen und erlernen. So nimmt sie ihre Nachbarin Luise auf, bald auch ihre Schwester Maggie: Die reist mit leichtem Gepäck, war stets die Wagemutige, die Schillernde und kommt jetzt zurück. Bis auf Ellas Sohn Tommy, deren Schwiegersohn und zwei Enkelsöhne, sind die Männer in den Erinnerungen wohl präsent, aber eben nur dort.
Neben diesen vier Frauen toben nach und nach die Enkelkinder von Ella – zum Romanende sind es drei, mit dem Sohn Emil ihrer Tochter aber genau genommen vier – durch die Räume. Rada sorgt sich um die Frauen in der Wohnung, sie selbst hat einmal heftig geliebt, damals in Temeswar/Rumänien. Dass der Richtige aber dann doch der Falsche war, will sie als junge Frau nicht wahrhaben, lässt sich ausnutzen, zuerst von den Eltern, dann von Lajos. Schließlich kommt sie zu Ella und Heinz, die sind gut zu ihr, sie gibt die umsichtige Pflegerin, wird nach dem Tod von Heinz die Vertraute von Ella und deren Kindern und Kindeskindern.
Die Autorin stellt einem die Frauen zuerst in angemessener Kürze vor, man lernt ihr Innenleben über ihre Gesten, Reaktionen, Vorlieben kennen. Ist es beispielsweise bei Rada ihre Frisur, die als Metapher für ihre Befindlichkeit/Abhängigkeit steht, sind es für Ella ihre Bücher und Erinnerungen, die ihr Kontur geben. Maggie, die eigentlich Margarete heißt, um fünf Jahre jünger als Ella ist, macht alles im Eiltempo: Verliebtsein, Studium, Auslandssemester in Paris mit vielen Erfahrungen, Ehe, Kind, Scheidung, Amouren, Rückkehr aus Rom. Luise wiederum gibt die Unsichere, Ängstliche, sie hat noch nicht überwunden, verlassen worden zu sein – klar, der Klassiker, „eine Jüngere“.
„Luise denkt nach. ... Was sie nie mochte, war Helmuts fehlende Zärtlichkeit. Er hat sie nie einfach nur in den Arm genommen, und das fehlt ihr bis heute.“
Dieses turbulente Kammerspiel zeigt auch die Verletzlichkeiten der Frauen, der jungen wie der älteren, ebenso ihre politische Entschlossenheit: Sie lernen über die Vermittlung Nellys, der Tochter Maggies, mit unbegleiteten Flüchtlingen Deutsch, sie protestieren gegen die aktuelle Regierung, sie erinnern sich an die 68er-Jahre. Maggie lernt Tango, Rada kocht, Luise jammert und Ella sucht ständig nach Dingen.
„Aber Ella sucht. Sie sucht ihre Schlüssel, sie sucht ihre Brille, sie sucht ihre Geldbörse. Und sie beginnt, die drei anderen Mitglieder der Wohngemeinschaft zu verdächtigen.“
Beständige und Flexible prallen hier aufeinander, was keine Alters-/Generationenfrage zu sein scheint. Ein dynamischer Roman, dessen Dialoge den ProtagonistInnen Kontur verleihen, Gefühle kommen früher oder später, meist früher, auf den Tisch. Dazwischen wird gekocht und gegessen, eingekauft und getratscht: Das Persönliche/Private ist hier stets auch politisch. Ein Kammerstück, bei dem die Fetzen fliegen. Keine Familie für die Harmonie-Tee-Werbung, aber eine starke Frauen-Gruppe, die Geborgenheit schafft und verteidigt.
Was Sie versäumen, wenn Sie dieses Buch nicht lesen: Familienaufstellung im sicheren Mittelschichtsmilieu, Familienkonflikte, Politik, Persönlichkeiten, mitreißenden Erzählfluss, Zeitgeschichte, ständige, konsequente Selbstbefragung, Unruhe, Ideen zum/übers Sterben und zum Leben an sich.
Die Autorin Susanne Scholl, 1949 in Wien geboren, hat Slawistik in Rom und Moskau studiert, als ORF-Korrespondentin lange in Moskau gelebt. Sie ist Gründungsmitglied von „Omas gegen rechts“, als Journalistin und Autorin mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. „Emma schweigt“ (2013), „Warten auf Gianni“ (2016), „Wachtraum“ (2017).
Susanne Scholl:
Die Damen des Hauses.
Roman.
Residenz Verlag 2019.
248 Seiten.