75 Jahre „Welt der Frauen“
Anlässlich unseres Jubiläums haben die Redaktionsmitglieder in den Heften ihres jeweiligen Geburtsjahrganges gestöbert und ihr Highlight ausgewählt. Ein Streifzug durch eine bewegte Geschichte.
Alexandra Grill, Fotoredakteurin seit 2011, ging einer Geschichte aus der März-Ausgabe 1974 nach.
Mein maximaler Mutbeweis war ein Bungee-Jumping-Sprung. Das echte Fallschirmspringen wartet seit Langem auf meiner To-do-Liste. Wohl deshalb bin ich wie magnetisch angezogen von dieser 1974 publizierten Geschichte über die Salzburger Fallschirmsportlerin Ute Kübler. Unbeirrt von den damals üblichen Klischees sprang Ute Kübler pro Jahr mit dem Fallschirm bis zu 200-mal aus einem Flugzeug.
Elf Jahre lang war sie erfolgreich – mehrmals sogar als Mitglied des österreichischen Nationalkaders. „Eine wunderbare Zeit war das“, sagt die heute 78-Jährige am Telefon. Noch heute ist eine tiefe Zufriedenheit zu spüren, wenn sie schwärmt vom Springen, von dem Fallschirmspringerteam damals oder den Reisen zu Weltmeisterschaften.
Technisch und variantenmäßig entwickelte sich der Fallschirmsport stark weiter. Die Frage des Geräts stellte sich zu Ute Küblers Zeiten noch gar nicht. Es gab nur einheitliche Schirme – „solche für 80-Kilo-Männer“ –, sie selbst war ein Fliegengewicht von 48 Kilogramm und wurde dementsprechend tatsächlich immer wieder mal „vom Winde verweht“.
Was für ein herrlicher Erinnerungsschatz, denke ich mir und beneide Ute Rothbacher, wie sie heute heißt, ein bisschen. Keines ihrer vier Kinder versuchte sich übrigens je im Fallschirmspringen. „Die suchten sich andere Sportarten aus“, erzählt sie, und ich finde schön, dass das Fallschirmspringen ganz „ihr Sport“ geblieben ist.
Die ganze Welt zu Füßen
Eine der jüngsten Sportarten in Österreich ist das Fallschirmspringen. Denn erst seit dem Staatsvertrag im Jahre 1955 haben die Österreicher wieder das Recht, mit eigenen Flugzeugen über ihrem Land zu fliegen. Seither kann man auch über Österreich mit dem Fallschirm „aussteigen“. Obwohl das Interesse am Fallschirmspringen ständig wächst, kann man diesen Sport keineswegs als populär bezeichnen.
Um so erstaunlicher ist es, daß sich verhältnismäßig viele Frauen für diese Sportart interessieren. Die Erfolgreichste unter ihnen ist seit Jahren die Salzburgerin Ute Kübler. Wie kommt man als Frau zu einer so ungewöhnlichen Sportart? Diese Frage drängt sich unwillkürlich auf, wenn man die zarte, sehr mädchenhaft wirkende Ute Kübler zum ersten Mal sieht.
Bei ihr war es ein bißchen Trotz und sehr viel Zufall, die sie zum ersten Absprung gebracht haben. Trotz verspürte sie deswegen, weil ihr Freund sie plötzlich nicht mehr zum Bergsteigen mitnehmen wollte. „Zu gefährlich, zu unweiblich, zu anstrengend”, fand er und ließ Ute unten warten, was ihr furchtbar schwerfiel.
Da zur selben Zeit ihr Bruder mit dem Fallschirmspringen anfangen wollte, begann sich Ute Kübler für diese Sportart zu interessieren. Vorerst nur, um zu beweisen, daß sie als Mädchen „Unweiblicheres“ vermöge als bergzusteigen. So versuchte sie es vorerst einmal mit dem Springen.
Am schönsten ist das Hinunterschauen
„Vom ersten Sprung an war ich begeistert“, erzählt Ute Kübler und versucht die große Faszination, die das Fallschirmspringen seither auf sie ausübt, zu erklären: ,,Man hängt über allem ganz allein, ist ganz auf sich angewiesen. Man wird sich dadurch seiner selbst bewußt. Am schönsten ist das Hinunterschauen. Es kommt mir vor, als würde mir alles gehören, die ganze Welt. Das prägt einen irgendwie. Ich denke mir immer wieder: Man bekommt eine ganz andere Lebenseinstellung. Man hat mehr Abstand, die Kleinigkeiten des Alltags kommen einem dann wirklich nur mehr nebensächlich vor.“
Kein billiger Sport!
Fallschirmspringen ist kein billiger Sport. Man muß einem Klub beitreten und dafür natürlich Mitgliedsbeitrag zahlen. Die Ausbildung dauert rund ein halbes Jahr und kostet ungefähr 3000 Schilling. Dazu kommt noch die Ausrüstung: Overall, Helm, Spezialsprungschuhe. Der Fallschirm wird meistens vom Klub zur Verfügung gestellt. Außerdem muß man zuerst einmal hinauffliegen, ehe man herunterspringen kann.
Die Betriebskosten eines Flugzeugs und das Honorar eines Piloten müssen natürlich auch bezahlt werden, aber auch hier springt der Klub weitgehend ein. Ute Kübler findet die finanzielle Belastung nicht besonders groß. „Je mehr und je besser man sportlich springt, um so mehr wird man auch gefördert.“ Schwieriger ist es, sich als Frau durchzusetzen. „Ich hab mich einfach durchgebissen und bin viel gesprungen. So hat man begonnen, mich ernst zu nehmen.“
Ute Kübler hat Verständnis, daß die fallschirmspringenden Männer nicht übermäßig viel Freude mit weiblichen Kollegen haben: „Es beginnen zwar sehr viele Mädchen mit dem Fallschirmspringen, hören aber während der Ausbildung oder nachher wieder auf, dadurch hat ein Klub eine Menge Auslagen.
Außerdem verlangt Fallschirmspringen viel körperliche Kraft, denn die Ausrüstung allein wiegt schon 25 Kilogramm. Ich hab‘ mir einfach mit eiserner Energie angewöhnt, meinen Schirm selbst zu packen und nicht an die Kavalierspflicht der Männer zu appellieren. Denn für die ist das auch kein Vergnügen.“
Das kann man sich leicht vorstellen, wenn man erfährt, daß ein Fallschirm aus 60 Quadratmeter Stoff und 28 Leinen zu je 8 Meter Länge besteht. Das alles muß mit größter Sorgfalt zu einem kleinen Paket zusammengeschnürt werden, denn ein Fehler beim Packen kann lebensgefährliche Folgen haben.
Beim Absprung trägt es der Springer auf dem Rücken. Vor dem Bauch hat er den Sicherheitsschirm gebunden, ohne den man nicht springen darf. Auch er ist 40 Quadratmeter groß und muß immer wieder überprüft werden.
Auf der Erfolgsleiter empor
Nach der Ausbildung muß man beim Bundesamt für Zivilluftfahrt zwei verhältnismäßig strenge Prüfungen ablegen, bei denen die angehenden Springer ihr Können in Theorie und Praxis beweisen müssen.
Nach dieser Prüfung nahm Ute Kübler sofort an der ersten Staatsmeisterschaft in Wels teil und gewann zu ihrer eigenen Überraschung einen Bewerb, es war Verzögerungsspringen mit Zielspringen.
„Damals war ich zum ersten Mal auf mich stolz. Zu der Freude am Springen kam nun auch die die Freude am Erfolg.“ Ein Grazer Fallschirmspringerklub nahm daraufhin die talentierte Anfängerin mit zu einem internationalen Bewerb nach Polen. Dort legte sie für ihre Gastgeber viel Ehre ein, indem sie einen Nachtsprungbewerb gewann.
„Man springt aus zirka 800 bis 1000 Metern in einen mit Taschenlampen ausgeleuchteten Zielkreis. Es ist stockfinster und ganz still. So still, wie ich es mir früher nie vorstellen konnte. Man hört die eigenen Bewegungen, den eigenen Atem, das leise Knistern des Schirms. Man spürt, die Nacht schluckt einen. Das ist sehr schön.“
Die sportlich sehr durchtrainierte Ute – neben Skifahren und Bergsteigen ist sie eine begeisterte Schwimmerin – bevorzugt das Figurenspringen. Man ,,steigt“ dabei in etwa 2000 Meter Höhe aus und muß beim Springen drei möglichst exakte Figuren, einen Linkskreis, einen Rechtskreis und einen Salto, ausführen.
Beim Zielspringen – hier muß man aus 800 bis 1000 Meter Höhe möglichst nahe an eine 10 Zentimeter große Scheibe kommen – hat Ute Kübler gegen das Handikap ihres Fliegengewichtes zu kämpfen. ,,Der Wind fährt so leicht mit mir davon!“ klagt sie. Dennoch ist es ihr am Tag unseres Interviews gelungen, bei starkem Wind einmal auf der Scheibe und einmal nur 13 1/2 Zentimeter davon entfernt zu landen.
1970 kämpfte sich Ute Kübler als einziges Mädchen in den österreichischen Nationalkader. Nach einer Weltmeisterschaft wird der Kader wieder aufgelöst und man muß sich bei den darauffolgenden Staatsmeisterschaften und verschiedenen örtlichen Bewerben wieder qualifizieren. Das gelang ihr auch 1972. Mit fünf der besten Mitglieder des Nationalkaders flog sie im Sommer 1972 nach Tahlequah, Oklahoma, USA.
Die österreichische Mannschaft errang unter 40 Teilnehmern den 9. Platz im Gruppenzielspringen und den 11. Platz in der Länderwertung. Sie selbst erreichte unter 80 Mädchen den 30. Platz. Das ist international gesehen zwar kein rauschender Erfolg, aber doch ein durchaus beachtliches Ergebnis. Denn in den Siegernationen, wie den USA oder den Ostblockstaaten, wird das Fallschirmspringen nahezu professionell betrieben.
„Im Ostblock können die Springer das ganze Jahr über springen. Bei uns nur im Sommer. Sie bringen es auf 1500 bis 2000 Absprünge und brauchen nicht einmal ihre Freizeit dafür herzugeben, denn sie gehören meistens zum Militär. Ich bringe es meistens nur auf etwa 150 bis 200 Absprünge im Jahr, obwohl ich während der warmen Jahreszeit jedes freie Wochenende und jeden Feiertag dem Springen opfere.“
Utes Ausdauer wurde auch im Jahr 1973 mit vielen Erfolgen belohnt. Sie wurde Vierte bei der österreichischen Staatsmeisterschaft im Fallschirmspringen und Zweite bei den Salzburger Landesmeisterschaften. Das ist in Anbetracht der starken männlichen Konkurrenz eine beachtliche Leistung. Dadurch hat sie sich auch wieder für den Nationalkader qualifiziert und wird heuer die erstmals existierende österreichische Damenmannschaft anführen.
Ute Kübler ist Röntgenassistentin im Krankenhaus Zell am See. „Im Winter haben wir immer Hochbetrieb durch die vielen Skiunfälle. Da habe ich im Krankenhaus kaum eine freie Minute und mache sehr viele Überstunden. Das kommt mir dann im Sommer zugute. Wenn das Krankenhaus wenig belegt ist, bekomme ich Zeitausgleich. Zusammen mit dem Urlaub ergibt das viel Zeit für das Fallschirmspringen.“
Angst vor der Gefahr?
Die Eltern Ute Küblers sind mit dem gefährlichen Hobby ihrer Tochter nicht so ganz einverstanden. Mein Vater hat es eigentlich nicht akzeptiert, aber er nimmt es halt hin, weil er sieht, daß es mir viel Freude macht. Meine Mutter ist beinahe unglücklich über diesen Sport. Sie hat halt einfach Angst um mich.“ Ute Kübler kann diese Angst ein wenig mitfühlen. Ihre Schwester ist an einer schweren Krankheit schon als Kind gestorben. Jetzt ist sie das einzige Mädchen unter drei Brüdern und versteht, daß es der Mutter nicht leichtfällt, daß ihre Einzige ausgerechnet Fallschirmspringen muß.
„Daher red‘ ich zu Hause nichts über das Springen. Aber wenn ich weg bin, ruf ich die Mutter jeden Tag an, damit sie sich keine Sorgen machen muß.“
Hat der Freund nie Angst um sie? Ute Kübler lacht: „Nein, er ist inzwischen selbst Fallschirmspringer geworden und ganz begeistert von diesem Sport. Er ist ebenso erfolgreich wie ich, nur hat er sich letztes Jahr eine Bandscheibenverletzung zugezogen und muß daher etwas pausieren.“ Sie selbst hat keine Angst um sich: „Von dem Augenblick an, da der Schirm aufgeht, bis zum Boden hat man 14 Sekunden Zeit. Wenn also etwas schiefginge, könnte man sich noch helfen. Schließlich muß man immer den Sicherheitsschirm mit sich haben, den man notfalls ganz schnell öffnen kann.“
Einfach fortgeblasen!
Lebensgefährliche Situationen hat es für Ute Kübler noch nie gegeben. Ernste Schwierigkeiten hatte sie nur ein einziges Mal: „Das war bei einem Bewerb in Breslau. Unser Ziel befand sich mitten im Stadion. Und weil ich so leicht bin – der Schirm ist für 80 Kilogramm schwere Männer gebaut, und ich wiege nur 48 Kilogramm –, hat mich der Wind einfach fortgeblasen.
Das war natürlich ein unangenehmes Gefühl, als ich bemerkte, ich erreiche das Stadion nicht, und über die Häuserblocks von Breslau dahinsegelte. Zum Glück war dort relativ wenig Verkehr, so konnte ich mir eine Straße zum Landen aussuchen. Mit leisem Entsetzen bemerkte ich, daß mir mit aufgeregtem Bimmeln eine Straßenbahn entgegenkam. Zum Glück konnte sie noch rechtzeitig stehenbleiben.
Recht peinlich war mir dann, daß sich ungefähr 100 Fahrgäste um mich ergossen, die mich alle anstarrten und mir helfen wollten. Schließlich wurde ich geradezu im Triumph wieder in das Stadion zurückgebracht und alles ist gut ausgegangen.“ Und wie stellt sich Ute Kübler die Zukunft vor? „Ich möchte mich wieder für den Nationalkader qualifizieren. Bisher sind alle Wettkämpfe gut gelaufen.“
Und privat? „Wahrscheinlich werde ich heiraten, dann wird es mit dem Springen bergab gehen, denn ich werde nicht mehr soviel Zeit dafür aufwenden können, und wenn ich einmal Kinder hab‘, werde ich wohl ganz damit aufhören. Ich könnte natürlich als Mutter auch springen, aber ich glaube, man denkt dann zu sehr an das Risiko. Das belastet. Schließlich darf man sich seiner Kinder wegen nicht der geringsten Gefahr aussetzen.“
Erschienen in: Welt der Frau, März 1974
„Welt der Frauen“ begleitet ihre Leserinnen und Leser seit 75 Jahren – die erste Ausgabe erscheint 1946 unter dem Titel „Licht des Lebens“ in Wien im Kontext des ideellen Wiederaufbaus nach dem Krieg. 1964 wird „Licht des Lebens“ in „Welt der Frau“ umbenannt und schließlich 2018 zu „Welt der Frauen“.