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10/24

Es ist ein Fehler, nur die großen Feinde zu fürchten

Es ist ein Fehler, nur die großen Feinde zu fürchten

Einer, der Anselm heißt, muss poetisch und ein wenig schrullig sein, ist gewiss kein Marathon-Läufer. O. k. alle Marathonläufer namens Anselm melden sich bitte bei mir. Doch mit dem Protagonisten dieses Romans lernt man Orchideen lieben und verstehen, man fährt mit Anselm nach Madagaskar, befindet sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts und genießt die Achtsamkeit dieses Orchideenforschers.

Madagaskar fasziniert Anselm, seine Sinne werden sensibler, er beginnt, seine Umgebung intensiver zu beobachten, Gerüche wahrzunehmen und zu klassifizieren, ja, der Wind, der ihm bei der Ankunft entgegenweht, riecht wie Zimt und Rhabarber. Der Botaniker Lendy wird Tag um Tag zu einem Vertrauten, Isaac klärt den Reisenden über die Machtverhältnisse auf Madagaskar auf.

„Wenn die Königin nichts von Anselms Einreise wisse, rate er ihm dazu, still und ohne aufzubegehren seinen Anweisungen zu folgen, sofern es sein Anliegen war, die Insel lebend wieder zu verlassen. Täglich komme es zu brutalsten Handlungen, zu Folter, Enthäuten, Enthauptungen. Wolle Anselm zu seinen Orchideen, müsse er sich ihm anvertrauen und in einer Sänfte reisen, so seien die Bräuche der Insel, die er zu akzeptieren habe. (S. 23) “

Die Orchidee, Vollkommen in ihrer Schönheit und Unabhängigkeit, bestimmt Anselms Werdegang; nach der heftigen Rückreise fällt er in eine Phase der Verwirrung, aus seiner Schulter wächst eine Orchidee, er spricht mit den Pflanzen lieber als mit den Menschen und wird von seinen Eltern in eine Nervenheilanstalt gebracht. Die meinen es gut mit ihrem verträumten, doch auch eigenwilligen Sohn, für den sie eine Karriere an der Universität planen.

„Ankommen bedeutete, etwas zu beginnen. Ankommen hieß sehen, entdecken, sich einlassen. Ankommen war, einen neuen Lebensraum zu betreten, einen alten wiederzuerkennen, oder sich einer Angelegenheit zu öffnen, welcher man bisher noch verschlossen gegenübergestanden war, dachte Anselm. (S. 250)“

 

 

Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Debütroman der Oberösterreicherin nicht lesen: Duft, Träume, bizarre Charaktere, Lebensbrüche, Leidenschaft, Wissen über Orchideen (Orchis sind eine bestimmte Gattung), Hartnäckigkeit, Auseinandersetzung mit der Lehre Charles Darwins, Leichtigkeit

Die Autorin: 1978 in Kirchdorf an der Krems geboren, hat in Wien Philosophie studiert, erhielt bereits zahlreiche Auszeichnungen und Förderpreise. Der hier besprochene Roman ist ihr Romanerstling.

Verena Stauffer:

Orchis.

Roman.

Wien: Kremayr und Scheriau 2018.

254 Seiten.

Christina Repolust

wurde 1958 in Lienz/Osttirol geboren. Sie schloss das Studium der Germanistik und Publizistik in Salzburg ab. Seit 1992 ist sie Leiterin des Referats für Bibliotheken und Leseförderung der Erzdiözese Salzburg und unterrichtet nebenbei Deutsch als Fremdsprache. Zudem leitet sie Literaturkreise und Schreibwerkstätten für Groß und Klein. Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.“

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  • Veröffentlicht: 20.06.2018
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