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Familie
11/12/24

Es ist dein Leben, Elena

Es ist dein Leben, Elena

Brandenburg. Irgendwo dort liegt Unterleuten. Da wollen viele hin, denn die Grundstücke dort sind extrem günstig. Die Leute dort? Na ja, schon schrullig, aber schrullig lässt einen die geniale Autorin ja auch selber sein. Zuerst schauen wir also mal bei Gerhard und Jule rein, das sind die Spinner mit dem Baby, der Alte, der sich für Vögel interessiert und seine um gefühlte 100 Jahre jüngere Frau, das Baby brüllt meistens. Gerhard hat alles dran gesetzt, die neue Familie nicht zu versauen, er hat diese Stelle angenommen, ist jetzt eine Art Vogelwart: Aber er liebt Jule, die ihm damals als Dozent doch gleich schon in seiner Vorlesung aufgefallen ist. Blöd ist nur, dass der Spinner gegenüber auf seinem Grundstück immer Autoreifen verbrennt. Jetzt riecht sogar das Baby nach verbranntem Gummi. In anderen, in kürzeren Romanen, geschähe jetzt ein Mord. Nicht so hier, man geht zum nächsten Spinner und das wird wirklich eine besondere Tour durch ein ganz normales Dorf, in dem die Grundstücke billig und die Leute ein wenig kauzig sind. Doch die Stadtflüchtlinge – nicht einmal Berlin Kreuzberg und Latte Macchiato dort konnte sie halten – haben natürlich auch schwarze, tiefgründige und abgründige Seiten, darüber liegt ihr Gelaber über die Freude am Landleben. Die Provinz zeigt sich nur kurz von ihrer besten Seite, dann kommen die Investoren und machen die Ureinwohner gierig, die anderen auch, die brauchen nur länger, um mögliche Gewinne zu kapieren.

Berliner Aussteiger wollen hier in Unterleuten gute Menschen sein, sie halten sich für intelligenter als die gewitzten Unterleutner. Die hören sich nämlich die Geschichten des Windrad-Verkäufers, einer Witzfigur wie aus dem Überraschungsei, erst einmal an, dann ziehen sie sich zurück. Und einer, der auch seine Geschäfte machen will, denkt dabei nur daran, seinen drogenabhängigen Sohn weiterhin unterstützen zu können: Wenn der Windrad-Deal genug Kohle abwirft, hat der Senior wieder mehr Kohle für Koks. Dazwischen wieder Therapeuten-Gelaber, Bobo-Gelaber, herrlich, abgründig, böse, schräg. Und dann schreit ja auch wieder das Baby von Jule, die Unterschriften gegen Windräder sammelt und dabei einschläft. Wendegewinner und Wendeverlierer treffen sich hier, schauen einander über die Zäunchen, plaudern über die jeweiligen Schrulligkeiten, einer sucht noch immer seine verschwundene Hebebühne! Zuerst schaut man lesend bei Frieß rein, das sind die mit dem Brüll-Baby, dann geht’s weiter zu Franzen, auch dort ist es nicht besser: Der kleine Bruder Timo hat nämlich Millionengewinne gemacht, während der große Bruder Frederik alles verpennt hat und jetzt den kleinen als Bürgen bei der Bank nennen muss.

Natürlich hätte Frederik seinen kleinen Bruder fragen können. Timo hätte sie in seine atemberaubend große, atemberaubend unordentliche Wohnung gebeten, ein paar Flaschen Club-Mate serviert und beim Zuhören die Stirn gerunzelt, nicht aus Ärger, sondern weil das bei ihm einen Ausdruck höchster Konzentration darstellte. Hin und wieder hätte er genickt und „Das ist ja schön“ oder „Kann ich gut verstehen“ gesagt. Am Ende hätte er, anders als Lindas Familie, nicht gefragt, ob sie verrückt geworden seien.

Pferde, Vögel, Hebebühnen, alte Liebes- und genauso alte Hassgeschichten liegen hier Zäunchen an Zäunchen beisammen. Man möchte hier nicht leben, aber würde gern auch nach Romanschluss weiterlesen. Denn Juli Zeh erzählt einfach unaufgeregt, kommentiert den Wahnsinn nicht, lässt die Leute sich selbst vorführen und lässt kein Detail aus, das Orte wie Unterleuten ausmacht. Und damit die ganz normalen Menschen in ihrem ganz normalen Alltagswahnsinn.

 

Was Sie versäumen, wenn Sie den Roman nicht lesen: einfach alles, denn jedes Fachbuch ist hier in Personen gegossen, da sind die Hipster, da sind die Alten und die Neuen, da sind alte Väter mit jungen Müttern und gut behüteten Kindern, da sind die Schrillen und die, die extrem viel unter ihre Teppiche kehrten, da sind alte Lieben und ebensolche Verletzungen, da sind geniale Charaktere, die erst mit einem Krückstock zuschlagen und sich dann linkisch dafür entschuldigen, genial, dass diese Entschuldigung auch noch angenommen wird. Sie ersparen sich dreimal Tatort-Schauen, die kommenden vier kritischen Sachbücher zum Thema Nachhaltigkeit und Solidarität und Sie wollen einfach dahin, nach Unterleuten. Nicht zum Bleiben, aber schauen wär doch auch schön!

 

Die Autorin ist 1974 in Berlin geboren, hat Jura, konkret Europa- und Völkerrecht studiert; nach längeren Aufenthalten in Krakau und New York gelang ihr mit ihrem Romendebüt „Adler und Engel“ (2001) ein Welterfolg, der Roman wurde in 35 Sprachen übersetzt. Preise und Stipendien folgen. Mehr: www.juli-zeh.de

 

 

Juli Zeh:

Unter Leuten.

Roman.

München: Luchterhand 2016

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  • Veröffentlicht: 13.07.2016
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