Müssen Kinder ihren Eltern dankbar sein? Nein, meint die Schweizer Moralphilosophin Barbara Bleisch. Statt auf Pflichten und Schuldigkeit zu pochen, gilt es, Kinder in die Freiheit zu erziehen.
Der Titel Ihres Buches „Warum wir unseren Eltern nichts schulden“ klingt zunächst provokant. Was war der Anlass für Sie, dieses Buch zu schreiben?
Barbara Bleisch: Ich bin selbst Mutter und natürlich auch Tochter. Unter anderem hat mich das Ringen meiner Mutter, die in einer typischen „Sandwich-Position“ war, beschäftigt. Sie hat sich einerseits um ihre alternden Eltern gekümmert, andererseits um ihre Enkel, auch um meine Kinder. Frauen, insbesondere Mütter, leisten enorm viel für die Gesellschaft, und es ist zu einfach, zu sagen: „Das schulden sie uns halt.“
Sie erwähnen im Buch als Beispiel einen Patenonkel, der seiner Nichte ein Studium in den USA finanziert – er kann Dankbarkeit zumindest erwarten, während Eltern Dankbarkeit nicht von ihren Kindern einfordern können. Warum?
Ich unterscheide zwei Formen der Dankbarkeit: einmal die Dankbarkeit als Tugend, als Haltung. Die tut uns selber gut, dankbare Menschen sind in der Regel glücklichere Menschen. Eine Haltung der Dankbarkeit ist aber auch ein soziales Schmiermittel: Wir blicken wohlgesonnen auf das, was wir voneinander erhalten. Etwas anderes ist die Dankbarkeit als Schuld, zu der wir einseitig verpflichtet sind: Jemand hat mir etwas gegeben und erwartet eine Gegengabe. Diese Erwartung ist nur gerechtfertigt, wenn wir das Geschenk auch haben ausschlagen können – und wenn es sich wirklich um ein Geschenk handelt. Der Patenonkel verschenkt etwas, wozu er nicht verpflichtet ist, und die Nichte könnte auch verzichten. Eltern sind aber verpflichtet, für ihre Kinder zu sorgen, und Kinder hatten keine Wahl, die Sorge anzunehmen.
Wenn man zu etwas verpflichtet ist, kann man also vom Gegenüber keine Dankbarkeit erwarten?
Im Sinne einer Schuldigkeit tatsächlich nicht. Natürlich ist es schön von mir, wenn ich mich beim Arzt bedanke, dass er mir den Blinddarm sauber herausoperiert hat; aber ich schulde ihm dafür ein Honorar, keinen Dank. Natürlich gibt es Eltern, die sehr viel mehr tun, als es ihre Pflicht wäre, und ihre Kinder haben sicher gute Gründe zu Dankbarkeit. Wenn es allerdings zu Konflikten kommt, heißt es von Elternseite oft: „Wir haben doch immer alles für dich getan.“ Das Kind sieht das vielleicht anders und sagt: „Ihr habt mir immer reingeredet und keine Freiheit gelassen.“ Von Kindern Dankbarkeit gegenüber ihren Eltern zu verlangen, heißt überdies noch sehr wenig: Worin genau bestünde ein adäquater Ausdruck der Dankbarkeit? Und wann genau wäre die Schuld beglichen? Das Kind bliebe wohl wie in der Erbsünde ein Leben lang der Schuldner seiner Eltern.
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Die Schweizer Moralphilosophin Barbara Bleisch vertritt in ihrem viel diskutierten Buch „Warum wir unseren Eltern nichts schulden“ eine provokante These: Kinder haben keine „filialen Pflichten“, das heißt, sie sind ihren Eltern gegenüber moralisch nicht zu Dankbarkeit oder Hilfsleistungen als „Wiedergutmachung“ verpflichtet. Denn „Schuldigkeit“, so Bleisch, sei nicht das richtige Konzept, um familiären Beziehungen gerecht zu werden. Wer will schon erzwungenen Dank? Nicht was wir einander gegeben haben, sondern was wir füreinander sind, zählt. Wir sollten gute Kinder sein wollen, sagt Bleisch, aus Gründen des Respekts und weil uns an der Familienbeziehung liegt.
Barbara Bleisch: Warum wir unseren Eltern nichts schulden.
Hanser Verlag, 18,50 Euro
Foto: Mirjam Kluka
Erschienen in „Welt der Frauen“ 0708/18