Aktuelle
Ausgabe:
Nahrung
09/24

Es gibt keine harmlosen Maschen

Da sprudelt eine Erzählung einfach so drauflos, schafft es von Wildschweinen und der Weltwirtschaftskrise in einem Satz zu reden, dazwischen den Sommer zu erwähnen und Begriffe wie globale Logistik, Premierminister mit Sehnsuchtsbegriffen wie Urlaub, Sonne und Bretagne auf die Reihe zu kriegen. Aufzufädeln sozusagen, denn das ist der Verbindungsfaden, mehrere Wollfäden, das Stricken, die Sehnsucht, doch noch alles auf die Reihe zu kriegen.

Bretagne, das war übrigens früher, jetzt brechen die Protagonisten ins Languedoc auf. Milan und Leo also, zwei Kinder, erwachsene Kinder also und nun dieser erste Urlaub nach der Wirtschaftskrise, die sie mit Verlusten überstanden haben. Milans Firma ging pleite, aber er erholt sich wieder. Ihre Tochter Annouk war es, die Elizabeth Zimmermann entdeckte und auf Englisch las, während sie bereits nach deren Anleitungen strickt. Das klingt ruhig, entspannt und innovativ, wäre da nicht immer die direkte Anrede von Seite zu Seite, im höflichen Sie an uns:

Die Erzählerin erzählt davon, wie ihre Familie die Pleite „überlebten“: Kein Kino mehr, kein Friseur, kein Einkauf im Bioladen, dafür selbstgestrickte Kleidung und Puppen für die Kinder, besonders für die damals noch kleine Annouk. Diese Geschichte ist auch als Lehrbuch zu verstehen, wie Begeisterung in Kindern geweckt werden könnte: Stricklust bei Annouk, die schließlich in der städtischen Bibliothek nach weiteren Strickanleitungen sucht. Eben noch zornig, richtig wütend, ändert sich Seite für Seite dann auch wieder ruckartig der Erzählton: „Aber dann kam das Netz. Aus Verbrauchern wurden User.“ Und so entwarf dieser Johnny eine Pullover-Software, man gründete das Label „Einer für alle“: Wer zwei Stricknadeln halten konnte, der verstand die Software.

Aber manchmal muss gar nicht viel passieren, und dennoch steht hinterher kein Sein mehr auf dem anderen, und tatsächlich stand hinterher kein Stein mehr auf dem anderen, und vielleicht war das gut so.

Eine Familie, deren Kinder zur Generation „Praktikum“ zählen, die Kreativen, die Hippster, die sich ausbeuten lassen. Erwachsene, die über die guten Zeiten nachdenken und noch immer Optimisten sind: Hier an ihrem Urlaubsort in Südfrankreich soll es eine stillgelegte Weberei geben. Und die Wildschweine und die Katastrophe, keine riesige, eine kleine, eine Umweltkatastrophe, die alle Netze zusammenbrechen lässt. Eine rasante Reise durch die new Economy, die Wirtschaftslügen, die Welt der gut Vernetzten, der Suchmaschinen, der Sehnsucht nach den letzten Idealisten, die wie Annouk ganze Klassen dazu bewegen, Pullover für Pinguine – im Ernst! – zu stricken. Zeit, die Nadeln zu suchen, Zeit, wieder Bücher der 1956 geborenen Autorin zu suchen: „Das lässt sich ändern“ oder „Die Frau mit dem Hund“ oder „Das Muschelessen“ (ausgezeichnet mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis 1990)

Birgit Vanderbeke: Der Sommer der Wildschweine
Roman
München u. a.: Piper 2014

  • Teile mit:
  • Veröffentlicht: 02.07.2014
  • Drucken