Die Kleine schaut auf die Welt, sie fängt sich die Wörter aus der Luft. Der Papa kommt zuerst – „Papa ist fort. Man muss ihn beschwören.“ Genau das erlebt die kleine Ilse, Ich-Erzählerin, bei ihrer Mutter: Die will nicht glauben, dass ihr Mann tot ist, sie glaubt, er sei in Gefangenschaft, komme zurück. Aufgeben, das ist nicht ihr Plan, denn sie, die Deutsche mit dem Bankert, erleidet auch so schon Anfeindungen genug: Sie hegt die Hoffnung und bringt ihrer kleinen Tochter bei, dass am Ende immer die Liebe siege. Die anderen sind da ganz anderer Meinung: Sie, die Deitsche, lasse sich ausnutzen. Warum sie für so viele Menschen im Dorf umsonst nähe, Kleider herschenke? Mutter näht schöne Kleider und Mäntel aus aufgetrennten Kleidern und Mänteln, sie ist eine Künstlerin.
Der Romanerstling der Salzburger Schriftstellerin Christine Haidegger erschien 1979 in der Reihe „rororo neue frau“, ja, allein die Kleinschreibung war Programm, man fühlte sich erkannt. Denn unerkannt fühlten sich viele der ersten Generation der Leserinnen: Man musste brav sein damals im postfaschistischen Österreich der 40er-Jahre, nicht aufmucken, nicht auffallen, den Mund halten. Gerade Kindern fiel das schwer, kleinen und klugen Mädchen wie dieser Ilse, die mager und häufig krank, dabei so neugierig und voller Elan ist. Sie liebt ihren Großvater, erinnert sich an Ausflüge mit der Mutter, deren Wissen um Kräuter und Pflanzen, deren Besonderheit: Sie war ehrlich, sann nie auf Rache und gab den Müllmännern und dem Postboten Trinkgeld. Sie, die beinahe nichts hatte, lebte Großzügigkeit in den engen Wänden, die Ohren hatten. Die anderen Frauen verachteten sie dafür, rühmten sich ihrer eigenen Schlauheit, wussten, die Männer für kleines Geld zu verführen. Da war auch Oma dabei, die sich für eine schöne Frau hielt und so manchem noch „schöne Augen“ machte.
Tochter und Mutter gehen an der Kolonne der KAZETTLER vorbei, die in ihren gestreiften Anzügen die Straßen ausbauen und ihnen „Zigaretten“ zuflüstern. Die Mutter hat Mitleid mit ihnen, sammelt Zigaretten, lässt die Kleine die Zigaretten aus dem Kinderwagen werfen. Schnell, keiner soll das sehen! Das Kind wächst heran, wird wie seine Mutter eigen, stolz und liebevoll zu Menschen, die es als Unterdrückte erkennt. Daher hält es selten den Mund, erzählt von den Männern, die der Vermieterin, Frau Auböck Geld geben, damit sie ihre Hosen runterlassen dürfen. Auch das war wieder falsch, obwohl es die Wahrheit war. Freundschaften zu den Mädchen werden durch die Offenheit der Mutter in Fragen der Sexualerziehung häufig auf harte Proben gestellt; die Deutsche ist ja auch noch evangelisch, gründet einen eigenen Chor und will nichts davon wissen, dass der Storch die Kinder bringt.
Ich muss auch immer nachmittags zwei Stunden RUHEN, weil ich so dünn bin, aber die Amis sind alle ziemlich rund, darum verstehe ich nicht, warum sie ruhen müssen. Aber Mama singt mir dann immer etwas vor, damit ich leichter einschlafe und ich denke, vielleicht schlafen die Männer auch leichter ein, wenn ich etwas singe und mir fällt die Melodie ein, die sie am öftesten singen, aber ich weiß keine Wörter dazu. Also singe ich lalala.
Die Symbiose von Mutter und Kind, der Deutschen und ihrem Bankert, bekommt Dellen, als das Kind in die Eliteschule, ein strenges Internat, muss. So sehr wünscht sich Mutter ein besseres Leben für ihre Ilse: Gute Noten muss sie bringen, damit sie bleiben darf, die Reichen schicken den Papa und der richtet es dann. Hier, so meint die Internatsleitung, würden die Frauen der kommenden Minister erzogen – Bildung also für den Herd, fürs gute Auftreten, damit man immer was zum Reden hat. Tugenden wie Sparsamkeit werden vordergründig gefördert, der Geiz der Internatsleitung verkleidet sich als Bescheidenheit, die Mädchen hungern von Tag zu Tag. Nur die Bauernmädchen und wieder die Reichen bekommen Fresspakete, die sie zu teilen haben. Nur mithilfe der Literatur, dem Lesen und dem Schreiben, dem Singen, übersteht Ilse diese Jahre. Sie hört den anderen zu und wird stets als „Außenseiterin“ beurteilt, verurteilt. Nur das Singen, das bringt ihr ein wenig Energie, so lange, bis es nicht mehr geht.
Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Geschichtswissen, Erinnerungen an Erziehungsrichtlinien, die nicht nur in Internaten galten, eine Kindheitsgeschichte, die von Sprache und Lebensfreude lebt, die von Humor durchdrungen und von tiefem Ernst geprägt ist, genaue Skizzen der Menschen, einzeln und als Gesellschaft.
Die Autorin, geboren in Dortmund, lebt heute in Salzburg; sie schreibt Kurzprosa und Lyrik, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Gemeinsam mit Helene Hofmann gründete sie das Salzburger Literaturhaus, in dessen Vorstand sie, u. a. Vizepräsidentin der GAV, die Interessen der AutorInnen vertritt. Sie war eine der ersten Autorinnen, die Schreibwerkstätten anboten, sich für die Geschichten anderer Frauen interessierten, sie zum Schreiben motivierten.
Christine Haidegger:
Zum Fenster hinaus.
Eine Nachkriegskindheit.
Salzburg: Otto Müller Verlag 2016.