Aktuelle
Ausgabe:
Nahrung
09/24

Die Seele ist ein Gewohnheitstier

Die Seele ist ein Gewohnheitstier

Manche Prosa liest sich wie ein Gedicht, genauer wie eine Ballade. Wie gerne verzichte ich auf die Spannung eines Tatortes und den Erstkontakt mit einer herausragend kaputten Persönlichkeit. Hier sind alle normal, ein wenig speziell jedoch schon, auch die Ziegen haben ihren eigenen Willen.

Da ist die Großmutter, daneben sitzt das Kind am Tisch, an dem der dritte Sessel leer bleibt, seit der Großvater nach Tamangur gegangen ist. Dorthin geht die Seele, jeder, der in Tamangur empfangen wird, verliert einundzwanzig Gramm, weil sich die Seele aus dem Körper davonmacht. Sie geht dorthin, wo sie vorher gewohnt hat. Das ist Philosophie, das ist Innehalten im Lesefluss, gerade als man mit der Ziege durch die Gassen irrt. Die Großmutter hat ein großes Herz, lässt vieles zu und liest gern in der Zeitung darüber, „wer wieder ins Gras gebissen hat und nun die Hühner des lieben Gottes hütet“. Da hört das Kind den Frosch, da hasst das Kind die herbeigerufene Klavierlehrerin, die ihm immer mit dem Lineal auf die Finger schlägt, sobald ein falscher Ton zu hören ist. Aber auch Elsa gehört dazu, sogar am Heiligen Abend, sie ist zuständig für den Sternenstaub des Augenblicks und erfüllt mit ihren Elvis-Platten das Zimmer – „are you lonesome tonight“ – dazu drehen sich Großmutter und Kind im Kreis, lassen die Hüften schwingen.

Großmutter erzählt gern, auch von den Filmen, die sie am Abend sieht und die ihr bestätigen, was sie längst weiß: Die Liebe hält nicht immer, manchmal hält sie, weil sie so ungestüm begonnen hat, weil die große Liebe nicht immer mit Glück behangen sein muss. Immer tiefer stiegt sie in die Erinnerungen. Das Kind darf ihr Briefe an die Seele des Großvaters diktieren. Dann spannt die Alte einen weißen, durchnummerierten Bogen Papier in die alte Schreibmaschine, für die es kein Farbband mehr gibt, ein und beginnt nach dem Diktat der Enkelin zu tippen.

„Mitten im Dorf, wo sich die Hauptstraße mit der steilen Gasse kreuzt, biegt das Kind links ab und läuft an der Lügenbank vorbei, wo am Nachmittag die Alten sitzen, meistens schweigend. Oder sie erzählen einander Lügen und halten die Hände im Schoß gefaltet. Nur manchmal bewegen sie eine Hand, um eine Fliege von ihren Nasen zu vertreiben.“

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Ruhe, Stille, Humor, Einsicht. Die Gelegenheit, in Schwarz-Weiß-Aufnahmen zu denken, Stillleben zu komponieren, Kindsein in der Einsamkeit und wohligen Aufmerksamkeit durch eine alte Frau zu erleben, Verlassensein und dabei große Sicherheit des Lebenszieles ohne spirituelle Verblödung, klar benannt wie ein Grenzübergang, der unausweichlich einmal zu passieren ist.

Die Autorin, 1944 in Scuol, im Engadin geboren, Sprachenstudium an der Universität Zürich, Arbeitsaufenthalte in Lateinamerika, Paris, Berlin und New York. Ja, sie schreibt überwiegend Lyrik, aber das haben wir doch schon längst kapiert.

 

 

Leta Semadeni:

Tamangur.

Roman.

Rotpunktverlag.

  • Teile mit:
  • Veröffentlicht: 22.04.2015
  • Drucken