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07-08/24

„Die Dämonisierung junger Terrorkrieger nutzt niemandem“

„Die Dämonisierung junger Terrorkrieger nutzt niemandem“

Der Terroranschlag in Wien, verübt von einem 20-jährigen Österreicher mit nordmazedonischen Wurzeln, wirft viele Fragen auf. „Welt der Frauen“ fragte Gerichtspsychiaterin Gabriele Wörgötter: „Können Radikalisierung und Anschläge verhindert werden?“

Unsere Redakteurin Petra Klikovits führte bereits 2016 ein Interview mit der renommierten Gerichtspsychiaterin Gabriele Wörgötter, die die Biografien von minderjährigen österreichischen IS-Kämpfern im Detail kennt und vor Gericht mitentscheidet, wie viele Jahre Gefängnis angemessen wären. Schon damals betonte Wörgötter, dass Gefängnisaufenthalte allein nicht reichen, um Jugendliche, die mit Terror-Milizen sympathisieren und kooperieren, wieder auf die richtige Bahn zu lenken. Dringend nötig sei deren „intensive sozialpädagogische Betreuung“.

Aufgrund des aktuellen Vorfalls haben wir Wörgötter noch einmal kontaktiert und sie gefragt, ob sie das damals Gesagte aus heutiger Sicht genauso wiederholen würde. Auch wollten wir wissen, ob der aktuelle Vorfall an ihrer Einschätzung von damals etwas verändert, sie in ihrer Einstellung vielleicht sogar bestärkt hat. Ihre Antwort: „Das damals Gesagte gilt auch heute noch. Der aktuelle Fall zeigt leider, dass die Präventionsmaßnahmen nach wie vor unzureichend sind und die Konzepte zur Deradikalisierung noch erhebliche Schwachstellen aufweisen.“

Fakt ist: Deradikalisierung ist komplex und kann nur im Zusammenspiel unterschiedlicher Player gelingen, die sich austauschen und deren Ansätze ineinander greifen müssen. Denn ein Deradikalisierungsprogramm „verfügt nicht über die Fähigkeiten zur Überwachung von Personen, wie es dem Verfassungsschutz möglich ist“, sagte Moussa Al-Hassan Diaw vom Verein Derad, der den Attentäter nach seiner Haft betreut hatte.

„Ohne tief greifende Maßnahmen bleiben Feindbilder in den Köpfen der Betroffenen bestehen. Ein 14-Jähriger ist nicht von Natur aus böse. Er wird böse. “
DDr. Gabriele Wörgötter ist Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie und gerichtlich beeidete und zertifizierte Sachverständige.

Lesen Sie hier das Welt der Frauen-Interview aus der Jänner/Februar-Ausgabe 2016

Wie wahrscheinlich ist es, dass österreichische IS-Kämpfer, die wieder heimkehren, nun im eigenen Land neue Sympathisanten ködern?
Gabriele Wörgötter: Die Wahrscheinlichkeit ist sicherlich gegeben, wenn man diesen verirrten Burschen nicht rasch eine intensive sozialpädagogische Betreuung angedeihen lässt, in der sie ihre Handlungsweisen revidieren können. Wöchentliche Psychotherapiesitzungen und ein Gefängnisaufenthalt reichen definitiv nicht aus. Sie müssen in ein neues soziales Umfeld, eine strukturierte Wohn- und Lebensgemeinschaft eingebettet werden, wo sie echte Aufmerksamkeit erfahren. Die meisten veranlassten ja tief liegende Gründe dazu, in den Dschihad zu ziehen.

Sie kennen Biografien österreichischer IS-Kämpfer im Detail, unter anderem die des 17-jährigen Oliver, der zum Islam konvertierte und nur aus dem Krieg heimkehrte, weil er bei einem Bombenangriff verletzt wurde. Seine Resozialisierung gestalte sich schwierig, Reue zeige er nur oberflächlich, heißt es. Wie kann man solchen Menschen zur Einsicht verhelfen?
Das ist ein langer, mühsamer Prozess. Falsche Glaubenssätze entweichen nicht von selbst. Sie lassen sich nur relativieren oder abschwächen, wenn fanatischen Ideologien ein entsprechendes Gegengewicht entgegengesetzt wird. Leider erkenne ich noch nicht, dass es hierzulande Überlegungen in diese Richtung gibt. Noch putzt sich die Gesellschaft ab, spricht von „ein paar verrückten Delinquenten“. Die Ignoranz gegenüber der wahren Problematik erschwert die Sache massiv, denn ohne tief greifende Maßnahmen bleiben induzierte Feindbilder in den Köpfen der Betroffenen bestehen. Ein 14-Jähriger ist nicht von Natur aus böse. Er wird böse. Er ist ein Produkt der Sozialisation durch Eltern und das soziale Umfeld, aber auch ein Spiegel unserer Gesellschaft. Dieser Tatsache sollten wir endlich ins Auge sehen.

Heißt das, man sollte jugendliche IS-Kämpfer nicht automatisch verteufeln?
Ja. Diese Dämonisierung nutzt niemandem. Was sie dringender denn je brauchen, ist Zuwendung. Jeder vernachlässigte Jugendliche ist potenziell gefährdet, auf die falsche Bahn zu geraten. Es kann sogar das eigene Kind sein.

Jener eingangs erwähnte 17-Jährige wuchs in desolaten familiären Verhältnissen auf, Geborgenheit und Halt hat er nie erfahren. Die alleinerziehende Mutter war überfordert. Also landete er im Kinderheim, entwickelte eine Störung des Sozialverhaltens und wurde zum Außenseiter. Seine Lehre brach er ab und wurde arbeitslos. Bedingungen für ähnlich gelagerte Schicksale häufen sich hierzulande. Jährlich gibt es rund 20.000 neue Scheidungskinder, die Jugendkriminalität steigt an, jeder vierte junge Mensch ist von Armut betroffen.

Nicht zu vergessen sind die fehlenden Väter! In allen mir bekannten IS-Fällen glänzen sie durch Abwesenheit. Klar, dass da männliche Rollenvorbilder fehlen. Das alles zeigt, vor welchen Herausforderungen wir stehen und wie breit wir ansetzen müssen. Nicht nur verwahrloste Jugendliche mit Migrationshintergrund suchen Zuflucht in radikalen Protestbewegungen. Auch solche, die in Österreich geboren wurden, aus unterschiedlichsten Gründen keinen Anschluss finden oder sich nicht mit unseren Werten identifizieren können, sind unter den Terrorkämpfern. Mit diesen Einsätzen bringen sie ihren Widerstand zum Ausdruck. Viele wurden an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Sie haben nichts mehr zu verlieren. Deshalb stellen sie sich als Selbstmordattentäter zur Verfügung. Ihre tiefe Verzweiflung wurde von Erwachsenen übersehen. Es wurde zum Beispiel nicht darauf reagiert, wenn sie sich immer mehr in die Welt des Internets zurückzogen und nichts mehr von sich preisgaben.

„Man muss ein Sicherheitsnetz einbauen, das sofort wirksam wird, wenn Jugendliche mit radikalen Gruppen liebäugeln. “
DDr. Gabriele Wörgötter

Wie laufen IS-Indoktrinierungen ab?
Sie sind mit Gehirnwäschen vergleichbar. Mit primitiven, manipulativen Mitteln werden angebliche „Tatsachen“ vermittelt, die bei Anhängern Vergeltungsgelüste wecken und Hass schüren. Zum Beispiel wird ihnen vorgeführt, wie viele Unschuldige in Syrien wegen Einmischungen aus dem Westen schon sterben mussten. Gleichzeitig wird den Kriegern suggeriert, dass sie „Helden“ seien und „berufen und auserwählt“, diese Opfer zu rächen. Diese Taktik funktioniert. Denn das westliche System ist es auch, in dem viele von ihnen keine Heimat finden.

Extreme Gruppen bauen also ihren Erfolg auf sozialen Mängeln in unserem System auf.
Korrekt. Religiöse Hassprediger rekrutieren orientierungslose Jugendliche einerseits durch Aufrufe in den sozialen Medien, aber auch im Umkreis von radikalen Moscheen. Dort werden Adressen verbreitet, an die sich Unzufriedene wenden können. Das kommt gut an. Plötzlich hört ihnen jemand zu und gibt Richtlinien vor. Plötzlich erleben sie vermeintliche Sicherheit und Struktur, bekommen eine „Aufgabe“ und Bedeutung, die unsere Sozialarbeit und Jugendwohlfahrt offenbar nicht zu geben vermag. Durch gebetsmühlenartiges „Du bist wichtig für uns“ wird Zugehörigkeit vorgetäuscht, das Gefühl von Angenommensein. Gefährdete junge Menschen brauchen das wie Hungernde ein Stück Brot.

Ist auch Wohlstandverwahrlosung ein Risikofaktor?
Das kommt seltener vor, aber auch. In solchen Fällen fehlt der emotionale Halt zu Hause. Die Motive, die sich für alle feststellen lassen, sind Sehnsucht nach Gemeinschaft, Sinn, Autorität und einer von oben diktierten Lebensführung. Weiters besteht ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Anerkennung und ein Drang nach Sichtbarwerden und Öffentlichkeit. Viele wollen ihrer inneren Leere und dem Gefühl des Scheiterns entkommen. Radikale Gruppen wissen um dieses Verlangen nach Idolen und holen junge Menschen in der Identitätsfindungsphase genau an diesem Punkt ab. Sie übernehmen sozusagen deren „Erziehung“ und missbrauchen ihr mangelndes Reflexionsvermögen. So funktioniert Fanatismus. Er zeichnet sich durch das unbedingte Fürwahrhalten vorgegebener Vorstellungen aus sowie durch Intoleranz gegenüber jeder abweichenden Meinung.

Fanatismus an sich ist nicht therapiebar. Doch fünf Jahre „wegsperren“ kann auch keine Lösung sein!
Das stimmt, aber „Einsitzen“ ist in unserer Gesellschaft immer noch die einfachste Lösung. So ist man Straftäter los und braucht sich nicht weiter zu kümmern. „In einigen Jahren ist eh vergessen, was da einmal war“, denken viele. Werden mit einer Verurteilung Akten geschlossen, besteht eine große Gefahr! Jeder einzelne Fall gehört genau erörtert. Zwar ist jede Causa individuell und komplex, aber in Expertisen lässt sich genau analysieren, wo Fehlentwicklungen begonnen haben. Daraus können wir ableiten, wo überall man künftig ansetzen muss.

Und das wäre?
Das hier soll keine Schuldzuweisung sein, aber Fakt ist, dass Präventionsarbeit in den Schulen, im familiären Umfeld und in der Jugendwohlfahrt geleistet werden muss. Man muss ein Sicherheitsnetz einbauen, das sofort wirksam wird, wenn Jugendliche mit radikalen Gruppen liebäugeln. So etwas gibt es bisher nicht. Ich bin jedes Mal schockiert, wenn ich sehe, wie schlecht Jugendämter, Krisenzentren und Wohngemeinschaften personell ausgestattet sind. Wie wenige Psychologinnen und Sozialpädagogen es dort gibt, die wirklich kompetent Hilfe anbieten können.

Überall wird gespart.
Natürlich ist das eine Frage des Geldes. Aber jetzt müssen wir entscheiden: Was ist uns diese Vorbeugung wert?

Als oft unterschätzte psychische Krankheit unserer Zeit gilt der pathologische Narzissmus. Symptome dieser Persönlichkeitsstörung sind unter anderem ein gewisser Größenwahn, unstillbares Verlangen nach Aufmerksamkeit und Bewunderung, fehlendes Einfühlungsvermögen, chronisch schwelende Wut, ein labiler Selbstwert. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Narzissmus und Terrorismus?
Ja, Terrorismus hat tatsächlich narzisstische Komponenten. Das eigene Selbst wird massiv überbewertet, durch Anschläge werden narzisstische Bedürfnisse befriedigt: „Ich bin wichtig“, „Ich kann die Menschheit retten – oder vernichten“, „Ich kämpfe für Allah“. Menschen, die sich wichtig und mächtig darstellen wollen, fühlen sich daher besonders angesprochen. Sie kompensieren ihre Hilflosigkeit durch Gewalt. In der Pubertät ist Narzissmus als Teil der Persönlichkeit in der normalen Entwicklung vorhanden. Erst im frühen Erwachsenenalter kristallisiert sich heraus, ob er pathologisch ist.

Das kolportierte Durchschnittsalter der „Gotteskrieger“ liegt zwischen 15 und 30. Ist diesen Männern bewusst, dass Terrormilizen ihre Emotionen wie Hass, Neid, Zorn und Rache für den Krieg instrumentalisieren?
Nein. So weit wird nicht reflektiert.

Hintergrund und Fakten

Der Terror-Attentäter, der am Abend des 2. November 2020, in der Wiener Innenstadt um sich schoss und vier Menschen tötete, war der Polizei und Justiz bekannt. Seit Jahren sympathisierte er mit dem IS-Kalifat, verbreitete über einen Messenger-Dienst Terror-Propaganda und saß im Gefängnis, nachdem er 2018 versucht hatte, nach Syrien auszureisen, um dort die Terrormiliz zu unterstützen. Im April 2019 wurde er zu einer 22-monatigen Haft verurteilt, bereits im Dezember 2019 kam er unter Auflagen wieder frei. Er galt als junger Erwachsener und fiel damit unter die Privilegien des Jugendgerichtsgesetzes. Als „Gefährder“ bekam er eine Betreuung der Vereine „Derad“ und „Neustart“ beigestellt, um in die Gesellschaft reintegriert zu werden.

Fotos: Ordination DDr. Gabriele Wörgötter

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  • Veröffentlicht: 05.11.2020
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