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03/24

Der Zeitladen, Teil 1

Der Zeitladen, Teil 1

In der alten Normalität habe ich mir oft mehr Zeit gewünscht. Wie praktisch wäre doch ein Laden, der für jeden Anlass die passende Zeit bietet.

Ein helles Glöckchen bimmelt, als ich den kleinen Laden betrete. Staunend schaue ich mich um. In den dicht bepackten Verkaufsregalen steht Zeit. In Tüten, Dosen und Kartons verpackt. Auf die Verpackungen sind verschiedenste Uhren aufgedruckt: Pendeluhren, Wecker, Armbanduhren und sogar Sanduhren. Jede steht für eine andere Art von Zeit, die man hier erwerben kann. Ich nehme eine Schachtel „Freizeit“ in die Hand und prüfe, ob es ein Ablaufdatum gibt. Kann Zeit schlecht werden? Bevor ich die Antwort herausfinden kann, schiebt sich das Gesicht des Verkäufers in mein Blickfeld. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragt er mit einem freundlichen Lächeln. Er trägt einen Apothekerkittel und im Gesicht einen Schnurrbart. Es ist unmöglich, sein Alter zu schätzen. Vielleicht ist er Anfang dreißig, vielleicht auch schon fünfzig. Ob das mit seinem Beruf zu tun hat?

Ich stelle die „Freizeit“ wieder zurück ins Regal und sage: „Ich dachte, ich könnte bei Ihnen vielleicht Auszeit kaufen.“ Er dreht sich um und deutet mir, ihm zu folgen. Wir gehen quer durch das Geschäft und bleiben schließlich vor einer Palette mit hölzernen Fünf-Liter-Fässern stehen. Sie tragen alle die Aufschrift „Auszeit“ und sind nummeriert. „Welche Auszeit brauchen Sie genau?“, fragt Schnurrbart. „Auszeit von Corona wäre nett“, antworte ich. Er lacht und sagt: „Warum frage ich überhaupt.“ Er zeigt auf ein Fass mit der Nummer 20. „Das ist ein spezielles Produkt, von hoher Qualität, fast zehn Jahre haltbar. Allerdings sollten Sie es sparsam anwenden, da es leicht süchtig machen kann.“ Entgeistert starre ich ihn an. „Es macht süchtig?“ Mit einer schnellen Handbewegung wischt er meine Bedenken beiseite. „Wenn Sie es inhalieren, kann nichts passieren.“

Während ich noch zweifle, trägt er das Fass zur Kassa. „Sie waren noch nie bei uns, oder? Möchten Sie eine Kundenkarte? Dann bekommen Sie zehn Prozent Rabatt auf die Auszeit und ein paar Probier-Zeiten“, sagt er und legt zwei Briefchen mit Pulver vor mich hin. Die Briefchen enthalten „Urlaubszeit mit Extra-Sonnenstunden“ und „Arbeitszeit, frei dosierbar“. Letzteres gebe ich Schnurrbart gleich wieder zurück. „Davon habe ich genug, danke. Ich nehme stattdessen lieber ein bisschen ‚Familienzeit‘ und ‚Zeit für Freunde‘, die habe ich schon sehr vermisst in den letzten Wochen.“ Schnurrbart reicht mir das Fass und den Rest über die Theke. „Das kann ich verstehen. Viel Vergnügen mit Ihrer neuen Zeit.“ Die werde ich haben.

Lisa-Maria Langhofer

lässt sich gerne inspirieren von guten Büchern, schlechten Filmen (manchmal auch umgekehrt), den Menschen, der Natur und dem Regen & denkt vor dem Einschlafen noch gerne an drei gute Dinge, die heute passiert sind.

Foto: privat

Foto: AdobeStock

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  • Veröffentlicht: 06.05.2020
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