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04-05/24

Der Moment, als Großvater sich verliebte

Der Moment, als Großvater sich verliebte

Normalerweise sollte Großvaters große Liebe die Großmutter sein. Sollte, aber was bedeutet dieses „sollte“ schon im Alltag im Flüchtlingswohnheim, wo Enkel Max mit seinen Großeltern lebt. Da ist noch die Rede vom goldenen Westen, zu dem Großmutter ihren Lieben Zutritt verschaffte, zugegebenerweise mit ein wenig Schummeln.

„Nicht, dass du denkst, dass wir tatsächlich Juden sind … Der Opa hat einen Onkel, der hat einen Schwager. Der hat eine jüdische Frau. Deswegen sind wir hier. So läuft es. Frag nicht!“
Seite 7

Aus der Sicht von Max entrollt sich hier Seite für Seite das enge Leben in der engen Wohnung, die Angst der Großmutter vor dem Neuen, das sie zu verführen sucht. Dabei übersieht die herrische Alte eines: Großvater hat sich bereits in die Nachbarin verliebt. Tief, ganz tief. Er strahlt. Max bekommt immer stärker mit, dass seine Großmutter ihn für entwicklungsverzögert hält, für nicht klar im Kopf, und rege nach Möglichkeiten sucht, ihn zuhause zu behalten.

„Ich weiß nicht, wie ich ihn zur Schule schicken soll, liebste Nina. Hier wollen sie die Kinder ab sechs Jahren in der ersten Klasse haben, diese Tierquäler. Wie kann man so ein Geschöpf aus dem Haus lassen? Ich kann es nicht verantworten. Er kann kaum was verdauen, und die Klassenkameraden werden Hackfleisch aus ihm machen, was meinen Sie?“
Seite 16

Großmutter Rita trägt ihre eigenhändig, später dann noch mithilfe des Enkels mit Henna gefärbten Haare streng zum Zopf gebunden. Der Zopf wippt energisch, Rita tyrannisiert nicht nur Enkel und Ehemann, sondern dehnt ihr Hoheitsgebiet auf das gesamte Wohnheim aus. Dabei ist Angst ein starker Motor: Was alles könnte dem Enkelchen in der Schule passieren, wer könnte den Großvater ausnutzen, wer alles will ihnen Böses! Dass Rita früher Tänzerin war, versteht Max schon als kleines Kind nicht, noch viel weniger scheint er diese faszinierende Persönlichkeit fassen zu können, als er älter und wohl auch reicher an eigenen Erfahrungen wird. Vera, die Tochter von Großvaters später, großer Liebe Nina, wird eine Vertraute von Max: Wenn die Großmutter Ninas Haare auf dem Sofa findet, beginnt sie zu heulen. Jedes Kapitel zeigt das Ringen um Sicherheit im Spannungsfeld von Verwurzelungsbestrebungen und Abgrenzungshandlungen: Man will irgendwie schon dazu gehören, man will erfolgreich sein – und manchmal will man einfach nur in Ruhe gelassen werden.

Was Sie versäumen, wenn Sie dieses Buch nicht lesen: exakte Zeichnung der ProtagonistInnen, Verschrobenheit, Reinheit der Herzen, Witz, Ironie, gekonnt inszenierte Melodramatik zwischen Enkel, Großvater, Großmutter und der Nachbarin Nina, die Großvaters Augen zum Strahlen bringt. Integrations- und Exklusionsfragen im täglichen Kampf um die eigene Existenz, die Abwehr fremder Einflüsse und den eigenen Machterhalt.

Die Autorin Alina Bronsky, 1978 in Jekaterinburg/Russland geboren, lebt seit den Neunzigerjahren in Deutschland. Ihre Bücher sind Bestseller, mit „Scherbenpark“, der im Hochaus-Ghetto spielt, frech und ergreifend zugleich erzählt ist, hat sie es sofort ins Kino und in deutsche Schulbücher geschafft.

Alina Bronsky:
Der Zopf meiner Großmutter.
Roman.
Kiepenheuer & Witsch 2019.
224 Seiten.

Christina Repolust

wurde 1958 in Lienz/Osttirol geboren. Sie schloss das Studium der Germanistik und Publizistik in Salzburg ab. Seit 1992 ist sie Leiterin des Referats für Bibliotheken und Leseförderung der Erzdiözese Salzburg und unterrichtet nebenbei Deutsch als Fremdsprache. Zudem leitet sie Literaturkreise und Schreibwerkstätten für Groß und Klein. Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.“

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  • Veröffentlicht: 21.08.2019
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