Aktuelle
Ausgabe:
Nahrung
09/24

Der Mensch ist nicht das Maß für den Menschen

Der Mensch ist nicht das Maß für den Menschen

In ein evangelisches Pfarrhaus geboren, hat die Radio­journalistin Renata Schmidtkunz eine bewegte religiöse Biografie. Sie plädiert für ein Ende der religiösen Gewiss­heiten, für mehr Fragen und für mehr Transzendenz.

Warum stößt Ihr Plädoyer für mehr Transzendenz auf ein so großes Echo?
Renata Schmidtkunz: Es gibt viele Bücher in religiöser Sprache oder in philosophischer, aber wenige sprechen den Konflikt an, dass wir viele religiöse Bilder nicht mehr deuten können. Wie kann man den guten Samariter auf heute übersetzen, oder muss man sagen: „An das alles kann ich einfach nicht mehr glauben“? Ich denke, viele vermissen etwas schmerzlich.

Sie gehen eher einer Sehnsucht nach?
Es geht immer um Identität, Heimat, Zugehörigkeit.

Braucht es dafür „Transzendenz“, reicht nicht auch einfach Humanismus?
Das war eine meiner Grundfragen. Ich meine, eine Norm hält nicht, wenn sie nicht von etwas abgeleitet ist, das nicht zu unserer immanenten Welt gehört.

Was würden Menschen sagen, die sich einer ganz diesseitigen, politischen Weltdeutung zugehörig fühlen?
Das ändert nichts daran, dass wir uns auf etwas anderes beziehen müssen. Der Mensch ist nicht das Maß für den Menschen. Wir haben die Fähigkeit, über uns hinauszudenken, und das beinhaltet, dass wir auch die Fähigkeiten haben, unsere Gesetzlichkeiten in einem Raum zu verorten, den wir nicht beeinflussen können. Das ist es, was ich mit Transzendenz bezeichne. Darauf kann man sich auch mit Sozialisten einigen, wenn auch nicht mit einer wissenschaftlichen Analyse. Faktum ist: Wir haben die Fähigkeit, uns irgendwohin zu denken, wo wir nicht sein können.

Es gibt vom Historiker Golo Mann den Satz, bloßer Humanismus sei wie eine Schnittblume, der die Wurzeln fehlen.
Gescheit.

Sie haben durch Ihr Aufwachsen im evangelischen Pfarrhaus eine religiöse Kindheitsprägung, die grundsätzlich positiv war. Gibt es da eine Sehnsucht nach Religion?
Es gibt die historischen Gefäße – ein Angebot der Religionen –, die nicht mehr funktionieren. Ich habe die Sehnsucht, aber sie wird in diesen Formen nicht mehr verankert. Ich glaube, dass wir die Frage nach der einzigen Wahrheit in Zeiten der Quantenphysik nicht mehr ernsthaft stellen können. Aussagen wie „Das ist ganz sicher der Auferstandene“ oder „der zum Himmel Geflogene“ sind passé.

Würden Sie „Gott“ sagen?
Ich rede nicht von Gott. Ich rede nur davon, dass wir die Fähigkeit haben, uns solche Bilder der Transzendenz auszudenken, und eines dieser Bilder ist eben Gott. Das ist ein historisch geprägtes Bild. Ich brauche das Bild Gott nicht, das kann auch „Lebenskraft“ heißen oder einfach nur „Leben“. Um mehr geht es gar nicht. Wir leben, und irgendwie versuchen wir, das gerecht und halbwegs menschlich zu tun. Und da haben wir ein paar Dinge entwickelt, die uns dabei helfen sollen. Religion war lange eine Ordnungsmacht. Haben wir jetzt andere Mächte, die uns ordnen? Ich weiß nicht. Wir haben viele Jahre Volkskirche hinter uns. Trotzdem bin ich sehr froh, dass es noch Kirchen gibt und Orte, an denen man sagt, dass der Mensch einfach als Mensch etwas wert ist und das neoliberale Beziffern von allem und jedem auch Grenzen hat.

Können Sie an Ritualen, die Sie geprägt haben, noch teilnehmen?
Ich mache die Rituale mit wie jemand, der weiß, dass er ein historisches Kostüm anlegt. Ich mache es mit wie jemand, der damit groß geworden ist. Ich mache die äußere Form mit, aber in mir drinnen passiert währenddessen etwas anderes. Ich muss diese Rituale aber auch nicht bekämpfen. Ich glaube, dass mir meine Erziehung im Pfarrhaus, wo man kein eigenes Haus besitzt, kein Geld, wo man alle fünf Jahre wieder die Koffer packt und weiterzieht, sehr viel innere Freiheit gegeben hat. Ich habe nicht wirklich Angst. Gottvertrauen ist es nicht, aber eine Art von Freiheit.

Ist die Rede von Transzendenz eine andere Form, über unsere Existenz zu sprechen?
Mein Vater, der zeitlebens Pfarrer war, hat an meiner Lesung in Salzburg teilgenommen und einem jungen Mann erklärt: „Wissen Sie, es ist ein Unterschied, ob man Umwelt oder Schöpfung sagt. In der Umwelt gibt es eine Hierarchie, aber in der Schöpfung sind alle gleich viel wert.“ In dem Sinne kann ich sagen: „Ich bin lieber in einer Schöpfung zu Hause.“ Was nicht bedeutet, dass es keine Evolution des Lebens gibt. Trotzdem sage ich lieber: „So eine schöne Blume, das kann nicht nur Evolution sein!“

Religion wird auch als vielschichtiges Unterdrückungsinstrument gesehen.
Ich habe nie etwas einzuwenden gehabt gegen meine Religion. Mein Maßstab ist nur: Bringt es mehr Liebe zum Menschen? Selbst wenn Menschen einbeinig über ein Seil tanzen und das zur Religion erklären: Wenn sie erreichen, was bisher Aufgabe der Religion war, nämlich uns zu lebensfähigeren und liebesfähigeren Menschen zu machen, soll es mir recht sein. Ich war für den ORF viel in den USA, wo ich verschiedene Arten von Christen besucht habe. Früher wäre ich vielleicht Methodistin geworden oder Quäkerin. Die haben die aristotelische Idee, dass man ein Span des Lichts ist, dass man Teil dieser Urlebensenergie ist und das verwirklichen muss, jeder auf seine Art.

Was ist die Liebesfähigkeit?
Ein sehr schwieriger Begriff. Für mich heißt das beispielsweise in Momenten, in denen ich mich über andere ärgere, zu sagen: „Du bist auch einer, der hier sein soll nach dem Plan.“ Ich liebe nicht alle Menschen, ich tu mir manchmal sogar schwer, manche Menschen zu lieben.

Ist Liebesfähigkeit …
…die Fähigkeit, in Beziehung zu gehen, das ist es vielleicht.

Warum werden Menschen lieblos?
Ich frage mich oft, was mit einem Menschen passiert ist, dass er sich so entfernt hat von der Liebe. Ich habe es immer als hohle Phrase empfunden, wenn mein Vater sagte, „Sünde ist, von Gott getrennt zu sein“. Wenn ich aber Gott mit der Kraft des Lebens gleichsetze, mit der Intention, dass jedes Wesen Geschöpf ist, dann ist es Sünde, falsch abzubiegen, sich vom Gedanken zu entfernen, dass dieser Planet allen Menschen gehört, dass unsere Aufgabe ist, allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen, und dass weder die Luft noch das Wasser noch das, was wächst oder vom Himmel fällt, irgendeinem gehört. Wenn wir zulassen, dass Menschen vor unseren Augen im Mittelmeer sterben, entwerten wir dadurch auch unser eigenes Leben und das unserer Kinder, jeden Baum, alles, was wir haben. Es geht darum, die Welt in einer Ganzheit zu betrachten, was noch nicht logischerweise heißt, dass man durch Erkenntnis schon ethisch besser handelt. Wir haben die Sehnsucht, zu verstehen. Mir ist es lieber, es so zu sehen, dass ich ein Teil des anderen bin und der andere ein Teil von mir. Deswegen ist auch Greta Thunberg (die Begründerin der „Friday for Future“-Bewegung; Anmerkung der Redaktion) für mich eine Botschafterin. Wenn wir ernst nehmen würden, was sie sagt, würden wir weinend zusammenbrechen.

Wie wichtig ist Ihre Radio-Gesprächs­reihe für Ihren Erkenntnisprozess?
Wenn ich diese Gespräche führe, versuche ich Ordnung in die Dinge zu bringen. Ich habe so viele Fragezeichen für mein Leben, und ich möchte wissen, wie andere Menschen es schaffen, ein gutes Leben zu führen. Es gibt für jeden einen Moment in der Kindheit, der ihn oder sie prägt.

Was war das bei Ihnen?
Meine Mutter ist schon so lange tot, dass ich mich nur an den Satz erinnere, den sie mir als Kind immer gesagt hat: „Du bist keine Konfektionsware, sondern Gottes Maßarbeit.“ Mein Vater hingegen erzählte immer: „Das Erste, was du gesagt hast, war: ‚Warum?‘ Und das Zweite: ‚Ich auch.‘“ Das Warum ist im Zentrum meines Lebens. Und was ich nicht ertrage, sind Menschen, die sich nicht erklären und für ihr Tun verantworten. Aus der Verantwortung entsteht Demokratie. Das treibt mich an. Vielleicht auch das Gefühl, nie in Österreich so richtig angekommen zu sein, weil ich darauf bestehe, eine eigene Meinung zu haben und sie auch auszudrücken.

Ist dieses Gefühl noch immer da?
Sogar wieder mehr. Wenn ich ins Taxi steige und sage: „Ich will ins Volkstheater“, sagt der Taxler: „Sie sind aber nicht von hier.“ Das geht mir kolossal auf die ­Nerven. In ­Österreich gibt es auch keine Kultur der ­Kritik. Für mich heißt Kritik, wahrzu­nehmen, dass etwas falsch läuft und man etwas ändern muss. Wir sollten mehr darüber reden, wie wir alle gut leben wollen, welche Träume wir ­haben, wie wir einander begegnen sollen. Mit ­meinem Buch ­wollte ich sagen: Es ist nicht sinnlos, man kann aufstehen und seine Meinung sagen. Wir sollen uns Geschichten erzählen, die uns mutig machen. Ich lebe in Wien und muss nicht mutig sein. Es gibt ­viele Menschen, die mutig sind, ­Dorothee Sölle zum Beispiel oder Martin ­Luther King. ­Seine Rede „I Have a Dream“ war eine Rede für ­gerechte ­Arbeitsverhältnisse und nicht nur religiös. Für mich als Protestantin gehört das zu­sammen. Ich brauche von Gott nicht zu reden, wenn ich keine Gerechtigkeit habe.

Steckbrief

Von Renata Schmidtkunz ist das Buch „Himmlisch frei. Warum wir wieder mehr Transzendenz brauchen“ (Verlag edition a,  22,00 Euro) erschienen. Sie geht darin anhand ihrer eigenen religiösen Biografie der Frage nach, wie eine Zugehörigkeit zum Ganzen neu gedacht und versprachlicht werden kann. Renata Schmidtkunz, geboren 1964, ist Tochter eines evangelischen Pfarrers aus dem Ruhrgebiet. Bedingt durch dessen berufliche Einsätze wuchs sie vor allem in Kärnten und Oberösterreich auf. Sie studierte evangelische Theologie, ist aus ihrer Kirche einmal aus- und später wieder eingetreten. Heute lebt sie als Journalistin in Wien. Ihre Radioreihe „Im Gespräch“ ist jeden Donnerstagabend und jeden Freitagnachmittag auf Radio Ö1 zu hören.

Hinweis

Renata Schmidtkunz ist am 21. Oktober um 19.30 Uhr im Linzer Kepler Salon (Rathausgasse 5) zum Thema „Warum wir wieder mehr Transzendenz brauchen?“ zu Gast. Eintritt frei.

  • Teile mit:
  • Veröffentlicht: 06.09.2019
  • Drucken