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04-05/24

Der große Fluss

Der große Fluss

Auf Bildern, in Anekdoten, in der Erinnerung: weiterleben.

Tante Klara und Onkel Arthur, ihre Kinder Hilde und Walter, Cousin Heinrich in seinem viel zu großen Sakko. Arthurs Schwägerin Beate, die Frau seines verstorbenen Bruders Hans, damals noch gertenschlank. Deren Schwester Lea im getupften Kleid. Schneiderin war sie, auch Hildes Robe ist ihr Entwurf. Hilde hat sich verlobt, mit einem Studenten, angehender Arzt, höchst willkommen. Das wird gefeiert. Die Familie hat sich versammelt, dazu Freundinnen und Freunde: Hausball bei Conradts, 8. Februar 1967, zu Ehren des Brautpaars. Sekt, Cocktails, kleine Häppchen. Festgehalten aus ungezählten Perspektiven, Werner war ein passionierter Fotograf und nie ohne seine Leica unterwegs.

Alle haben einen Namen. Blaue Tinte, steile Schrift. Hildes Mutter ist stolze Chronistin, ihr Fotoalbum sorgfältig geführt. Die Personen von links nach rechts, jede einzelne Aufnahme mit Legende. Bis auf das Gruppenbild rund um den Tisch. Das wäre ein Rattenschwanz an Namen geworden. Und wir kennen ja alle. Bis auf einen. Ein junger Mann, in der dritten Reihe, ganz außen. Helles Haar, kecker Blick, weißes Hemd und getupfte Krawatte zum dunklen Anzug. Aber wer war das nun? Sein Name fehlt. Vielleicht Hildes Arbeitskollege Fritz? Der später nach Norwegen ausgewandert ist, war´s Bergen oder Tromsö? Nein, der ging schon früher weg, das muss Anfang der 1960er-Jahre gewesen sein. Oder es war Alex, der Sohn der Payers von nebenan. Doch der hatte eine Narbe auf der Stirn, die würde man sehen, Fahrradunfall.

Da, auf einer der hinteren Seiten des Albums, taucht der Unbekannte neuerlich auf, neben Hilde auf der Couch. Sitzt da, schaut ruhig in die Kamera, lächelt und schweigt. Steht auf, spaziert aus dem Bild und verschwindet. Lässt diesmal seinen Namen zurück, unter diesem Foto. Harry Finz. Er ist nicht vergessen. Irgendwie, irgendwo leben wir alle weiter. „Jede Nacht steigt neue Finsternis herauf und gibt sich als Ordnung aus“, schreibt Ilse Aichinger. „Aber der grauende Tage beruft sich auf den großen Fluss mit seinen Auen, der nicht weit sein soll.“

Susanne Schaber

lässt sich im Morgengrauen vom Vogelgezwitscher inspirieren und denkt vor dem Einschlafen noch gerne an Reisen und Abenteuer im Kopf, um am nächsten Tag beherzt ins Leben zu springen.

Foto: Karl Mühlberger

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  • Veröffentlicht: 23.04.2020
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