Dass nach einer Trennung die Kinder beim Vater bleiben, ist immer noch die Ausnahme. Was fühlen Frauen, die ihre Familie verlassen? Und warum ist es so schwer, über das Weggegangensein zu reden? Eine Spurensuche.
Als ich zwölf Jahre alt war, verließ meine Mutter die Familie. „Verließ“ ist vielleicht das falsche Wort, denn eigentlich brach unsere Familie auseinander wie ein morsches Boot, oder besser: Sie explodierte mit einem großen Knall und schleuderte meinen Vater, meinen Bruder und mich auseinander, meine Mutter aber in eine ganz andere Umlaufbahn. „Vielleicht“, denke ich manchmal, „hatte sie auch vorher nie wirklich in unserer Umlaufbahn gelebt.“
Damals jedenfalls, 1975, war sie einfach verschwunden, und als sie nach knapp drei Jahren wiederauftauchte – in einem anderen Leben, in einer anderen Stadt mit einem anderen Mann –, blieb der Kontakt unsicher und distanziert, als sei da etwas zwischen uns, eine Fremdheit, eine Schuld und Scham, die nicht wieder aufzulösen war.
EINE RECHERCHE
Über all die kommende lange Zeit blieb die Distanz bestehen. Ich telefonierte hin und wieder mit meiner Mutter, sah sie aber nur in Abständen von fünf bis sieben Jahren.
Vor einiger Zeit ist sie gestorben, als eine Frau, die ich wohl nie verstehen oder ergründen werde. Neben ihrem Bett, nah an ihrem Kopf, hatte sie ein Kinderbild von uns stehen, von meinem Bruder und mir. Wie hat sie gefühlt? Und was fühle ich eigentlich? Um dem näher zu kommen, suche ich nach Müttern, die ihre Kinder verlassen haben, und stelle ihnen die Fragen, die meine Mutter nicht beantworten wollte oder konnte. Warum sind sie gegangen? Haben sie Schuldgefühle? Und: Warum ist es so schwer, mit den eigenen Kindern über das Weggegangensein zu reden?
WARUM FRAUEN GEHEN
Meine Recherche hat mich nach Deutschland und durch Österreich geführt, zu mittlerweile elf Frauen der Jahrgänge 1939 bis 1980 – und zu drei Töchtern. Und natürlich ist die erste Antwort: Keine Mutter geht ohne Grund. Die Frauen wollen nicht ihre Kinder verlassen, sondern ihre Ehen, sie befinden sich in ausweglosen Situationen. „Ich konnte nicht mehr“, sagte eine der Mütter, oder eine andere wusste: „Wenn ich jetzt nicht gehe, komme ich nie mehr weg.“ Oft werden die Kinder zum Pfand des Machtkampfes. „Die Kinder bekommst du nur über meine Leiche“, das hörten vor allem die Frauen der älteren Generation von ihren Männern, in einer Zeit, als noch „schuldig geschieden“ wurde und es auch kein „geteiltes Sorgerecht“ gab. Entscheidungen waren „entweder – oder“ zu treffen. In den Erzählungen dieser Frauen hört es sich oft so an, als seien sie verstoßen worden. Sie verlassen das Heim, weil der Mann nicht gehen wird, sie nehmen sich – meist in Geldnot – eine Wohnung, in der auch die Kinder Platz hätten, aber die Kinder ziehen nicht unbedingt zur Mutter. Sie sind Nesthocker, manchmal auch, um den Vater zu schützen. „Johann hat sich geopfert“, erzählt eine Mutter über ihren Sohn. „Du bist stark“, hatte der ihr gesagt, „der Papa braucht uns jetzt.“
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„Meine Neugier hat mich gerettet“
In einer mittelgroßen Stadt in Ostdeutschland treffe ich Frau A. (38), sie stammt aus Niederösterreich und hat ein wienerisch anmutendes Café für unser Gespräch ausgesucht. Mit ihren hellen, klaren Augen, diesem Lächeln, das fast die ganze Zeit auf ihrem Gesicht ist, wirkt sie zufrieden und ausgeglichen. Interessant an ihrer Biografie ist, dass sie seit der Kindheit Mitglied der „Zeugen Jehovas“ war und auch ihre eigenen Kinder nach deren Regeln erzog. Sie heiratete früh (einen Nicht-Zeugen), zog aufs Land, habe sich aber schon bald so unglücklich gefühlt in ihrer Ehe, dass sie auch eine schlechte Mutter gewesen sei, sagt sie. Die Verliebtheit in einen anderen Mann wurde für sie zu einem „Sprungbrett“, um aus ihrer Ehe und auch bei den „Zeugen Jehovas“ auszutreten. Fortan war sie im Ort geächtet und zog in eine etwas entferntere Stadt. Die Töchter, damals neun, sieben und fünf Jahre alt, blieben beim Vater.
Frau A. begann ein Studium, die Kinder sah sie an den Wochenenden; gemeinsam mit ihrem neuen Partner und dessen Kindern bildeten sie dann eine Art Wochenend-Patchworkfamilie. Einige Jahre später lernte Frau A. einen Mann aus Deutschland kennen und zog zu ihm. Ihre Töchter (heute 18, 16, und 14 Jahre alt) besucht sie regelmäßig, „ich bin nach wie vor ihre Mama“, sagt sie. Das Verhältnis verändere sich ständig und sei zu jedem der Kinder verschieden. Frau A. hat ihr Studium abgeschlossen und sucht derzeit Arbeit. „Es ging mir noch nie finanziell so schlecht und noch nie psychisch so gut wie heute“, sagt sie.
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Erschienen in „Welt der Frau“ 01-02/19