Liebe Leserinnen und Leser!
Sie kennen das auch. Sie und ich lesen einen Autorinnen-Namen und erinnern uns an deren Erzählton, sehen bereits gesehene Lesebilder wieder vor uns.
Bei Evelina Jecker Lambreva ist es für mich immer diese Präzision in der Beschreibung der Charaktere, der Umstände, der Wohn- und Wirkungsorte. Mir fällt die Lektüre realistischer Erzählungen leicht, das Eintauchen in Phantasy-Literatur fällt mir so leicht wie mir Klettern leichtfällt, also gar nicht. Und irgendwann, vor etwa 9,5 Jahren habe ich etwas verstanden: Ich habe das Recht, Bücher auch wieder zuzuklappen. Wir passen nicht zusammen, wir werden uns nicht kennenlernen. Vielleicht später einmal, und wenn nie: Das Buch sucht sich seine Leser*innen, ich mach mir inzwischen einen Espresso und schlage diesen Roman mit dem Gefühl des sprachlichen Nachhausekommens auf. Viel Vergnügen!
Anja widersetzt sich dem System
Die junge Ärztin kommt mit ihrem schwarzen Reisekoffer in Dorf. Hier, in Svescht, regieren Gewalt und Korruption, besonders die Heimkinder bekommen diesen Faschismus zu spüren. Ausgerechnet an der Haltestelle begegnet Anja dem Heimkind Maria. Jeden Freitag wartet die Kleine an der Haltestelle darauf, dass vielleicht ihre Mama mit dem Abendbus ankommt, sie aus dem Heim holt, sie in die Arme nimmt.
„„Die Mutter steckt im Gefängnis wegen Gewalttaten und Raubüberfällen. Die kommt nicht so schnell heraus“, erklärte die Gemeindemitarbeiterin trocken weiter.“
Anja ist klug und erkennt, wie stark Menschen wie diese Gemeindemitarbeiterin die über achtzig Kinder und Jugendlichen im Heim, überwiegend „Zigeunerkinder“, verachten. Sie weiß nach wenigen Tagen, wer hier das Sagen hat, wer sich duckt und wegduckt, wem man vertrauen kann und wem man besser aus dem Weg geht. Es ist ihre erste Arbeitsstelle nach dem Studium, sie ist unsicher, findet aber nach und nach Verbündete. Die Autorin lässt Anja in Briefen ihre Sicht auf Arbeit und Dorfgemeinschaft in Ich-Form schildern, öffnet dabei den Innenraum der starken jungen Frau. Sie hat den Hippokratischen Eid geschworen und widersetzt sich daher der Präpotenz des Genossen Nakov, jenes Mannes, der von ihr die Verschreibung teurer Medikamente ohne Untersuchung verlangt. Er gilt viel hier im Ort und in der Region, schließlich dient er als Staatssicherheitsmitarbeiter ja der Obrigkeit.
„Anja verabscheute und fürchtete Leute mit dem Titel ‚Aktiver Kämpfer gegen den Faschismus und Kapitalismus’. ... Anja waren solche Genossinnen und Genossen besonders zuwider. Sie waren nicht nur überheblich, sondern auch gefährlich, denn sie arbeiteten für die bulgarischen Geheimdienste.“
Die junge Medizinerin lehnt das Angebot Kavos ab, als Spionin zu arbeiten, dabei hätte sie doch so gute Voraussetzungen: einen angesehenen Beruf, Bestnoten im Französischen Gymnasium. Schwere Fälle belasten die noch unerfahrene Ärztin, aber sie rettet vielen das Leben. Nur Maria, die ihr an ihrem Anreisetag als erste begegnete, kann sie nicht retten: Auch hier spielt die Macht der Politik ins Lebenretten, Zivilcourage kann wohl manchmal gegen Bürokratie und Hetze einfach gewinnen. Und dann wäre es soweit: Anja wird in Paris arbeiten können, hat ihre gescheiterte Beziehung zu einem Wendehals überwunden, wird von den Dorfbewohnerinnen und –bewohnern geschätzt und geliebt. Ja, sie hat sich Respekt auch von den Lehrer*innen im Erziehungsheim erarbeitet, Haltung gezeigt, ihren kleine Katze durch einen Racheakt verloren, auch das betrauert, sich Kaffee gekocht und so Hürde um Hürde, Demütigung und Kränkung überwunden, durchlitten, überlebt. Aber dann …
Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Roman nicht lesen
Resilienz, starke Frauen, Gewalt gegen Schwächere, Gewalt gegen Frauen, Korruption, Hoffnung, viele Details des Lebens in Gesellschaft Bulgariens.
Die Autorin Evelina Jecker Lambreva
1963 in Stara Zagora/Bulgarien geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz und arbeitet dort als neidergelassene Psychiaterin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zurück. Bisher sind von ihr erschienen und sehr sehr lesenswert „Vaters Land“ (2014) und „Nicht mehr“ (2016).
Evelina Jecker Lambreva:
Entscheidung.
Roman.
Wien: Braumüller 2019.
288 Seiten.
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at
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