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Buchempfehlung: Beim nächsten Mal wird’s ein Junge

Buchempfehlung: Beim nächsten Mal wird's ein Junge

Starke Frauen, die die Familien „durchbringen“, die rechtzeitig erkennen, wann Immobilien ge- beziehungsweise verkauft werden müssen, die Suppenküchen eröffnen und die Ausbildung zur Friseurin machen: Das ist der Kosmos, von dem dieser Roman erzählt ...

… und mittendrin Kim Jiyoung, die Tochter, die von ihrer Mutter Anpassung und Durchhaltevermögen lernt. Die Tochter, die sich viele Fragen stellt und darauf wenige Antworten erhält. Wunschloses Unglück bei der Mutter, bei der Tochter und dazwischen kurze Momente des Glücks.

Als die Titelheldin geboren wird, senkt ihre Mutter den Kopf und schluchzt ihrem Mann entgegen: „Es tut mir leid, mein Schatz!“ Es gilt als Versagen, eine Tochter zu gebären. ist besser, dem Mann und der Familie einen „Sohn zu schenken“. Diese Tochter, Kim Jiyoung, Titelheldin dieses hintergründigen Romans, fällt  mit 33 Jahren zum ersten Mal „durch sonderbares Verhalten“ auf.

Es ist jener Moment, in dem die junge Frau und Mutter im Tonfall ihrer eigenen Mutter artikuliert, über den Wind und das Lüften philosophiert und damit gänzlich aus der Rolle der Angepassten fällt beziehungsweise springt. Der Rückblick auf ihre Sozialisierung 1982 – 1994 entwirft eine Gesellschaftsbild, das unmittelbar zu Diskussionen über Geschlechtergerechtigkeit führt, sichtbar werdend in Begebenheiten des Alltags wie in Bildungsbiographien von Mädchen beziehungsweise Frauen in Südkorea.

„Bei den Mahlzeiten wurde der frisch gekochte Reis ganz selbstverständlich so auf die Schüsseln verteilt, dass zuerst der Vater, dann der Bruder und danach die Großmutter etwas erhielten. Während die wohlgeformten Maultaschen, Fleischbällchen und Tofu-Stück dem Jungen in den Mund geschoben wurden, erhielten die Schwestern kommentarlos nur die zerfallenen Brocken.“
Seite 25

Der Bruder findet Schutz vor Regen unter seinem Schirm, seine zwei Schwester müssen mit einem gemeinsamen Schirm auskommen. Das ist nur eines der unzähligen Beispiele von Ungleichbehandlung, das von den beiden Schwestern murrend, lange jedoch ohne Widerstand, hingenommen wird. Der Vater bringt das Geld, die Mutter „verdient dazu“.

Die Mutter nimmt vordergründig diese Machtverhältnisse hin, arbeitet jedoch an der Verwirklichung ihrer eigenen Vorstellungen. So suchte sie sich neben drei Kindern, der Betreuung der Mutter ihres Mannes und Haushalt eine Arbeit, die sie daheim erledigen konnte. Wie alle Frauen der Nachbarschaft übrigens: Sie war bald die beste Arbeiterin, rollte beispielsweise Fensterdichtungen schnell und präzise, die Materialmenge wuchs beständig, ihr Einkommen stieg.

Dann erwarb sie ausreichend Wissen, um als Friseurin zu arbeiten, auch das äußerst erfolgreich, sie verfügte nämlich neben ihrem handwerklichen Geschick über einen außerordentlichen Geschäftssinn, ganz im Gegenteil zu ihrem Mann. Sie kauft und verkauft die Wohnungen, in denen ihre Familie lebt, sie bahnt Geschäfte an, hindert ihren Mann daran, falsche Investitionen zu tätigen und bleibt dennoch still im Hintergrund.

Als Kim Jiyoung Jahrzehnte später hochschwanger mit der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit ist, begegnet ihr Unverständnis und Neid. „Wie kommt man auf die Idee, sich schwängern zu lassen, wenn man dann mit einem dicken Bauch in der U-Bahn zur Arbeit muss?“ (S. 165) Bemerkenswert ist auch, dass noch immer die Frage des Geschlechts des Kindes von großer Bedeutung ist. Zwischen der Schilderung der Vorsorgeuntersuchung und der des Einlaufs bei der Geburt der Tochter schiebt Cho Nam-Joo statistische Daten in den Text und macht klar: Wir lesen hier kein „Einzelschicksal“, das Private ist immer auch politisch!

„Im Jahr 2014, dem Jahr als Jiyoung ihre Arbeit aufgab, kündigte jede fünfte verheiratete Südkoreanerin ihren Job wegen Heirat, Schwangerschaft oder Kinderbetreuung beziehungsweise Kindererziehung.“
Seite 171

Im Nachwort schreibt die Autorin: „Ich habe eine Tochter, die fünf Jahre älter ist als Ziwon, Jiyoungs Tochter. Meine Tochter sagt, sie möchte später Astronautin und Naturwissenschaftlerin und Schriftstellerin werden. Ich glaube, die Welt, in der sie leben wird, wird besser sein als meine, und dafür kämpfe ich.“

Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Roman nicht lesen:

Erkenntnisse über Alltagssexismus, also strukturelle Feindlichkeit gegen Frauen/Mütter, Traditionen, Emanzipationsversuche, Leben von Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft, Veränderungen über die Generationen hinweg, Stagnation über die Generationen hinweg, Gesellschaftsstudie, literarische Be- und Verarbeitung autobiografischer Erfahrungen. Laut Recherche wurde das im Original 2016 erschienene Buch in Südkorea über eine Million mal verkauft, es ist eines der zentralen Bücher/Aussagen der feministischen Bewegung.

Die Autorin Cho Nam-Joo

ist 1978 in Seoul geboren und wuchs in einem Außenbezirk Seouls in emotional wie finanziell unsicheren Verhältnissen auf. Studium und Abschluss am Department of Sociology der Ewha Womens University; sie war neun Jahre lang Drehbuchautorin fürs Fernsehen und lebt mit ihrer Familie in Seoul. Der vorliegende Roman wurde bisher in 18 Sprachen übersetzt, 2019 wurde er verfilmt.

Cho Nam-Joo
Kim Jiyoung, geboren 1982
Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee
Kiepenheuer & Witsch 2021
208 Seiten.

Christina RepolustChristina Repolust

Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at

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  • Veröffentlicht: 01.09.2021
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