In zehn Sitzungen zur ureigenen Optimalversion
Arthur ist 22, der Kaffeeautomat ist gegen ihn. Arthur will diesen Tag, dieses neue Kapitel nicht mit einer Lüge beginnen. Jetzt will er zuerst diesen Automatenkaffee! Sogar beim Kaffeeautomaten muss man funktionieren, sonst bekommt die Studentin, die hinter einem steht, keinen Kaffee. Arthur Galeij verlässt an einem Vormittag im Juni 2010 nach zwei Jahren Haft als freier Mensch das Gefängnis der JVA Gerlitz.
„Dann ist er einfach davongegangen. Einen Schritt nach dem anderen hat er in seinen braunen Adidas-Sneakers gemacht, einen nächsten und übernächsten, ganz normal, in Jeans, und doch hat er sich gewundert, dass seine Kleidung nicht zerfällt in der Luft, dass nichts von ihm wegbricht oder sich auflöst.“
Arthur beobachtet sich und seine Umgebung sehr genau, über seinen Therapeuten Konstantin Vogl, den mit der Bundesheerbrille, kann er nur staunen. Dann soll er dem auch noch mit dem Handy helfen, ihm Symbole suchen, so sieht ein Resozialisierungsprogramm aus? Das Starring-Prinzip der hier propagierten Resozialisierung soll ihm helfen, zu erkennen, wen er darstellen könnte. Wen stellt Arthur im Mai 1988 bei seiner Geburt dar, als sein Vater Ramon Arthur im Arm hält und an seine Affäre denkt. Und der Neue im Leben von Mutter Marianne, Georg, den Arthur mit etwa sieben Jahren kennenlernt, lässt sich leicht von ihm und seinem Bruder Klaus täuschen, nein, sie sind keine zufriedenen Burschen.
Schon gibt es ein neues Mantra im Familienleben, mit „Georg-sagt“ wird das Leben leichter. Arthurs Kindheit und Jugend kommt via Bandaufzeichnungen als Rückblende in die aktuellen Ereignisse rund um seine Haftentlassenen-WG. Die Autorin bedient keine Klischees, macht vorschnelle Schlüsse – bedürftige Alleinerzieherin erzieht Kriminellen – zunichte. Die Rückblenden zeigen auch den Aufstieg dieser Kleinfamilie: Mit „Georg-sagt“ leitet die Mutter eine Hospizeinrichtung für Wohlhabende in Andalusien. Hier lernt der kantige Arthur viel über Menschen und das Leben und sogar übers Sterben. Kein Pathos schleicht sich hier ein, kein Geschwurbel über prekäre Lebenssituationen, sondern ein klarer Blick für skurille Szenen und Vorgaben. Hart hat es der Arthur. Aber das weiß er, seit er sich dem Kaffeeautomaten gestellt hat. Birgit Birnbacher ist zurückhaltend im Erzählton, wohlwollend mit ihren Figuren, kritisch mit dem System, dem Bewährungshelfer und Haftentlassener gleichermaßen ausgeliefert sind. Und manchmal meint man, ein leises Kichern zu hören, ein sehr leises und auch das nur bei den allerskurillsten Szenen.
„Arthurs Gesicht glüht noch immer. Er denkt: schön eigentlich. Immer wieder geschieht etwas, und der Mensch macht weiter. Geht los und kauft frische Milch. Vielleicht wird Arthur seinen Kaffee nun doch wieder mit Milch trinken. In diesem Leben wird kein Superheld mehr aus ihm.“
Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen
Den wirklich speziellen Börd-Therapeuten (bürgerlichen Namens Konstantin Vogl), Witz, schräge Typen außerhalb der Gefängnismauern, so ganz normal zu besuchen, Ironie, Kindheitsszenen, Vielschichtigkeit, Systemkritik.
Die Autorin Birgit Birnbacher
geboren 1985 in Schwarzach im Pongau, erhielt 2019 den Ingeborg-Bachmann-Preis für ihre Erzählung „Der Schrank“. Sie arbeitet als Soziologin und freie Autorin in Salzburg.
Birgit Birnbacher:
Ich an meiner Seite.
Roman.
Zsolnay 2020.
272 Seiten.
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at
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