Der Sonnenuntergang ist nie einfach
Es soll ja an den ersten Sätzen liegen, ob man ein Buch weiterliest, einen Roman zu Ende liest oder nicht. Delia Owens eröffnet ihre Reise durch das Marschland, durch die Seelenlandschaft des Mädchens Kya sowie durch die Milieus mit einem eindringlichen Prolog, der vom Leichenfund am 30. Oktober 1969 im Sumpf erzählt. Lapidar, mit interessiertem Blick auf das Marschland, die Moore, die feuchtkalten Wälder.
„Ein Sumpf weiß alles über den Tod und versteht ihn nicht notwendigerweise als Tragödie, ganz sicher nicht als Sünde.“
Es ist die kleine, sechsjährige Kya, die 1952 ihrer Mutter nachschaut, wie diese mit einem blauen Koffer in der Hand und hochhackigen Schuhen das Weite sucht. Sie kommt wieder, hofft die Kleine, die mit dem trunksüchtigen und gewalttätigen Vater noch einige Jahre als einziges der Kinder zusammenleben wird. Die Mutter, so denkt das Kind, hat wohl Großes vor! Die Kleine lernt zu kochen, kauft Gries und verschweigt die Zustände in der Hütte im Marschland. Die Umgebung sieht weg, nur einen Tag ist Kya in der Schule: Dort wird sie verlacht und verspottet, sie weiß sich in der Natur besser aufgehoben.
Die Resilienz dieses Mädchens, das erst als junge Frau lesen und schreiben lernen soll, ist ein wesentliches Spannungselement des Romanes, der Krimi, Entwicklungsroman und Gesellschaftsroman in einem ist. Es ist das Südstaatenessen, das einen an viele jugendliche Heldinnen und Helden in armen Verhältnissen denken lässt: Auch hier stand täglich Maisbrot am Tisch, so wackelig er auch war. Nachdem die Geschwister ebenfalls das Weite suchten, bleibt Kya mehrere Jahre mit ihrem Vater allein, er schlägt sie, er bringt ihr an guten Tagen das Angeln bei, sie ist immer auf der Hut vor ihm. Schließlich verschwindet auch er, wieder lügt das Mädchen, der Vater sei auf einer längeren Angeltour. Alle wissen um die Lebensumstände, alle schauen weg. Bis auf Jumpin und dessen Frau: Hier bekommt Kya Kleidung geschenkt, hier darf sie die gesammelten Muscheln verkaufen, hier beginnt sie, auch mit Räucherfischen zu handeln.
Es sind zwei Burschen, Männer, die dem „Marschmädchen“ näher kommen. Tate, der ihr das Lesen und Schreiben beibringt, der ihr großes Schreib- und Zeichentalent, ihr Wissen über das Marschland entdeckt und Chase Andrews, ein Draufgänger, der das Marschmädchen belügt, ihr vorspielt, heiraten zu wollen. Auch er verlässt sie, hat sie zuvor geschlagen, hat sie bedrängt, hat sie verletzt.
Die „feine“ Gesellschaft trifft sich im Gerichtssaal, wo darüber befunden werden soll, ob Kya eine Mörderin oder Totschlägerin oder eine Unschuldige ist. Die Zeugen präsentieren sich verwirrt, voller Vorbehalte, der Sheriff könnte der Cousin aller verwirrten ErmittlerInnen sein, die man in mittelmäßigen Serien und sogar manchmal im Tatort kennenlernt. Die Anklage ist nicht nur wackelig, sie ist surreal: Mit jedem Kreuzverhör werden Vorurteile gegenüber Menschen in prekären Situationen deutlicher. Kya hat mittlerweile als Autorin und Illustratorin große Erfolge, ihr Wissen wird von Forschungsstätten und Universitäten hoch geschätzt. Sie, die bloßfüßige Kleine aus dem Marsch, die von allen verlassen wurde, sieht sich im Gerichtssaal noch einmal mit allen Vorurteilen gegen sie und ihre Herkunft, ihre Besonderheit, konfrontiert.
„Kya lag eines Nachmittags auf dem weichen Waldboden bei der Lagune und wartete auf Tate, der unterwegs war, um Proben zu sammeln. Sie atmete tief ein in dem Wissen, dass er immer wiederkommen würde, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben nicht allein zurückbleiben würde.“
Das Marschmädchen hat viele Geheimnisse, ihre große Liebe Tate entdeckt sie nach ihrem Tod und staunt und versteht.
Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Roman nicht lesen
Abenteuer, Einsamkeit, Entwicklungen, Gesellschaftskritik, Familiengeschichte, verdorbene Menschen und unberührte Landschaft, Gegensätze, Hass, List, Natur, die Wildnis North Carolinas.
Die Autorin Delia Owens
in Georgia geboren, erforschte zwanzig Jahre als Zoologin in verschiedenen Ländern Afrikas Löwen, Elefanten und Hyänen. Der vorliegende Roman ist ihr Debüt.
Delia Owens:
Der Gesang der Flusskrebse
Roman.
Aus dem amerikanischen Englischen
von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.
hanserblau 2019.
464 Seiten.
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at
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