Die Kanadierin Alice Munro (1931 in Wingham, Ontario geboren), Nobelpreisträgerin für Literatur 2013, lässt Rose und Flo, Stieftochter und –mutter,in zehn Erzählungen aufeinander zugehen, voneinander weg rennen, einander beinahe zu mögen beginnen und stets darum ringen, das Andere, das Fremde zu verstehen. Damit ist natürlich noch nichts über die Gesellschaftsanalyse gesagt, die jeder Erzählung ihre eigene Note gibt. Da gibt es die armen Leute vom Land und die etwas Wohlhabenderen aus der Stadt. Flo wäre froh, wenn alles so bliebe, wie es ist: Rose könnte den Gemüseladen übernehmen, sie müsste nie die Brücke überqueren, in ihrem eigenen Viertel groß und vielleicht sogar an manchen Tagen glücklich werden. Sie waren zu viert und wohnten hinter einem Laden in Hanratty, Ontario: Rose, ihr leiblicher Vater, Flo und Brian, Roses kleiner Halbbruder. Sprachgenauigkeit, Auseinandersetzung mit Sprache und deren Erschaffung der Wirklichkeit setzt gleich bei der ersten Geschichte ein, als Flo ihrer Stieftochter „eine fürstliche Abreibung“ verspricht. Rose war ein Baby, als ihre Mutter starb, bald danach zog Flo ein und Rose wuchs ohne jede Erinnerung und ohne jedes Erinnerungsstück – kein Buch, kein Kleid ihrer Mutter war zu finden – auf.
In der Titelgeschichte arbeitet Rose in der College-Bibliothek, sie hat es geschafft, ist Stipendiatin. Es ist einer dieser stillen Nachmittage, im Herbst, an einem Freitag, der kein guter Bibliothekstag ist, an dem Rose Patrick begegnet. Patrick liebt Geschichten von Bettlermädchen, von Jungfrauen im Unglück, er will ihr Ritter sein. Und seine Familie ist sehr sehr wohlhabend, plötzlich wird Rose von Menschen gegrüßt, die sie bisher missachtet, mehr noch, einfach übersehen hatten. Rose, die kein Mitleid will, die Patrick eigentlich nicht liebt, heiratet ihn folgerichtig auch nicht. Später, bei einem zufälligen Treffen, zieht er ein Gesicht, dass seinen Hass auf sie zeigt: Es sind diese Grimassen, diese gemeinen Gesten, diese verlogene Mimik, die die Titelgeschichte prägen.
„Rose war zufrieden mit sich, weil sie an die Grapefruit gedacht und wie sie sie erwähnt hatte, mit einer kühnen und doch natürlichen Stimme. Manchmal trocknete ihre Stimme in der Schule ganz aus, manchmal ballte sich ihr Herz zu einem klopfenden Klumpen zusammen und saß ihr in der Kehle, der Schweiß klebte die Bluse an die Arme, obwohl sie ein Deo benutzte. Sie war immer aufgeregt.“
Alice Munro:
Das Bettlermädchen.
Geschichten von Flo und Rose.
Übers. von Hildegard Petry.
Frankfurt: Fischer Verlag 2014.