Matthias Brandt hat einen riesigen Namen, ist ein bekannter Schauspieler und könnte jetzt doch so richtig auf den Putz hauen: Wer hat schon eine Kindheit als Sohn des deutschen Bundeskanzlers auf den Tisch zu legen, wer hat mit und bei Heinrich Lübke Kakao getrunken? Doch Matthias Brandt beschreibt die Stationen seiner Kindheit wie Reisen durch exotische Länder, zu Menschen, die er genau erkundet und kennenlernen will. Etwa Lübke, der in seinen Erinnerungen unsicher geworden und für viele zu einer Lachnummer geworden ist. Da trinkt der kleine Brandt Kakao und ist dankbar und noch immer darüber erstaunt, dass er, als er vier Jahre alt war, vom damaligen Bundespräsidenten – dieser war Lübke damals – eingeladen und mit einem prachtvollen Stofftier beschenkt worden war. Ein riesiger Elefant der Firma Steiff auf Rädern, was größeres gab es damals in der Spielwarenhandlung „Puppenkönig“ nicht.
Achtsamkeit, genaues Beobachten und ein sicheres Gespür dafür, wann man am besten verschwindet, prägen diese Geschichten. Da gibt es keine Indiskretionen des Matthias Brandt, da gibt es wohl viel Schmunzeln, wenn er etwa an eine Radtour mit Papa Willy und „Herrn Wehner“ denkt. Hier erzählt ein Kind seine Erinnerungen an Sicherheitsleute, Chauffeure, Bedienstete, denen man im Haus respektvoll begegnete, Willy Brandt in seiner sprichwörtlichen Zerstreut- und geistigen Abwesenheit. Mutter und Sohn Brandt fahren auf der Fähre nach Norwegen, freuen sich an der Überfahrt, schmuggeln Alkohol und genießen ihr Sommerhaus: Man beobachtet sich, lässt sich und das Erkannte in Ruhe, geht seiner Wege und lässt auch das Kind machen.
„Norwegen, wohin wir unterwegs waren, schien mir ohnehin ein Land zu sein, das im Wesentlichen von Tanten, Onkeln, Cousinen und Cousins bevölkert war. Dieses Land hatte meine Mutter mir beigebracht, sei unsere eigentliche Heimat, also auch meine, obwohl ich dort nie gelebt, sondern nur die Ferien verbracht hatte. Einmal hatte sie mich gefragt, ob ich mir vorstellen könne, mit ihr dorthin zu ziehen ... (S. 42)“
Wenn sich der Junge anstelle der Schulbücher nun doch einen Raumanzug kauft, schimpft man nur kurz und lässt den Jungen zum Mond und zurückfliegen. Und dieser ist in der Lage, den dritten Astronauten unter Tränen zu bemitleiden, dass er nicht aussteigen durfte: Ein tiefer Blick in die Geschichte, in eine Kinderseele und eine tiefe Verbeugung für einen Autor, der das heute erzählt, der das Kleine neben dem Großen sieht, die anderen mag und beschützt. So entwickelt sich auch die Freundschaft mit dem Außenseiter der Klasse, wenig gedankliche Schnittmenge, doch das Fremdsein, das verbindet die beiden Buben.
Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Stille, Ruhe, den Wunsch, selbst wieder ein Kind auf einem Fahrrad zu sein, Verständnis für Kinder – alle Kinder -, die ihre eigenen Welten erschaffen, Interesse an der Geschichte Deutschlands, was geschah unter Lübke, wer war dieser „Wehner“ eigentlich, außer einem guten Radfahrer, Humor, genaue Vermessung des Kindheitsraumes, Sensibilität mit Ausgeschlossenen, Verständnis für die anderen … und noch viel mehr.
Der Autor, 1961 in Berlin geboren, eist einer der bekanntesten deutschen Schauspieler, an renommierten Theatern und fürs Fernsehen, man denke an Polizeiruf 110-Star Hanns von Meuffels; 2003 spielte er Günter Guillaume im Fernsehfilm „Im Schatten der Macht“, der von den letzten Tagen vor dem Rücktritt des deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt handelt. Er liest auch Hörbücher, etwa Annie Proulx „Schiffsmeldungen“.
Matthias Brandt:
Raumpatrouille.
Geschichten.
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2016.
171 Seiten.