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03/24

Als mein kleiner Bruder starb

Als mein kleiner Bruder starb

Der Verlust eines Geschwisterkindes bringt alles durcheinander: das Familiengefüge ebenso wie die Ordnung der Welt, in der gewöhnlich die Alten zuerst sterben. Und oftmals scheitert auch die Beziehung der Eltern daran. Reden hilft.

Von Deutschland nach Großbritannien, zwei Wochen auf dem Schiff – die Reise war lange geplant und von der ganzen Familie sehnsüchtig erwartet. Der zwölfjährige Michael durfte dem Vater, der als Ingenieur bei der Reederei arbeitete, im Maschinenraum helfen. Für die Mutter und die fünfjährige Marlene war der Ausblick vom Deck auf das unendlich scheinende Meer und dessen Tierwelt interessanter. Doch was als Traumreise begann, mündete in einer Katastrophe: Michael erstickte am letzten Tag der Reise, nachts allein in seiner Kajüte, an einer Sauerstoffmaske, die er sich zum Spaß aufgesetzt hatte.

„FÜR MICH WAR MICHI TROTZDEM DA“
Wie es den Eltern in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten ergangen ist, ist unschwer nachzuvollziehen: das Entsetzen, die Schuldgefühle, die Vorwürfe, die Trauer. Was aber ging in dem fünfjährigen Mädchen vor, das so nahe am Geschehen war und den Bruder verloren hatte? „Mir war klar, dass er weg war, für mich war er aber trotzdem da“, erzählt die heute 28-jährige Marlene Vukmanic. Einen Doppelregenbogen, der kurz nach seinem Tod am Himmel zu sehen war, deutete sie als Zeichen: „Michi passt auf mich auf.“

Reaktionen wie diese sind im Vorschulalter typisch, wie Ursula Molitschnig weiß. Sie ist steirische Landesleiterin bei „Rainbows“, einer Anlaufstelle für „Kinder in stürmischen Zeiten“: „In diesem Alter haben sie ein magisches Denken, für sie kann ein toter Mensch real anwesend sein, zum Beispiel mit am Tisch sitzen“, so die Expertin für Geschwistertrauer. Die Offenheit der magischen Welt gegenüber macht Kinder erfinderisch. „Es gelingt ihnen leichter, die Tür zum verstorbenen Geschwisterteil aufzumachen“, meint Ursula Molitschnig. Auf der anderen Seite hätten die Kinder häufig Schuldgefühle, weil sie im Alter ab etwa vier Jahren in einer egozentrischen Phase sind und alles auf sich beziehen. „Es kommt vor, dass ein Kind auf seine Schwester oder seinen Bruder eifersüchtig ist und sie oder ihn wegwünscht. Wenn sie oder er dann stirbt, glaubt das Kind, es habe die Schwester oder den Bruder weggezaubert und der Verlust sei seine Schuld“, erklärt die Fachfrau. Auch Marlene Vukmanic erinnert sich an Schuldgefühle: „Ich hatte am Vorabend von Michis Tod ein ungutes Gefühl. Hätte ich die anderen warnen sollen?“

„ICH WOLLTE MEINEN ELTERN HELFEN“
„Rainbows“ gibt den betroffenen Kindern den nötigen Raum für die eigene Trauer, den sie daheim meist nicht haben. Die Kraft und die Aufmerksamkeit für das übrig gebliebene Kind fehlen den Eltern, die oft über einen langen Zeitraum die Freude an ihrem Leben verlieren. Der Fokus werde auf das verstorbene Kind gerichtet, so Molitschnig. Ihre Erfahrung: „Kindern gibt es Halt und Sicherheit, wenn sie schnell wieder in die Schule oder den Kindergarten gehen.“ Denn ihr Zuhause sei voller Tränen und Schwere.

Karin Kicker-Frisinghelli war 13, als ihre zehnjährige Schwester plötzlich starb. Die Pädagogin, heute 44, weiß noch: „Mich hat die Trauer meiner Eltern sehr beschäftigt. Ich wollte ihnen helfen, konnte es aber nicht. Jahrelang habe ich mir gewünscht, dass alle anderen vor mir sterben. Ich würde den Schmerz schon aushalten, wenn nur die anderen davon verschont blieben.“ Wie viele Jugendliche in ihrer Situation hatte die Grazerin wenig Unterstützung. „Ich bin sehr allein gewesen mit dem, was mich beschäftigt hat.“ Die Eltern waren in ihrem Schmerz gefangen, der zweijährige Bruder noch zu klein, der Rest sprachlos.

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„DURCH IHN BIN ICH, WAS ICH BIN“
Marlene Vukmanic (28) hatte trotz eines Altersunterschiedes von fast acht Jahren ein sehr enges Verhältnis zu ihrem Bruder Michael, der ihr schon als kleines Kind den Umgang mit dem Computer beibrachte. Die gebürtige Obersteirerin ist überzeugt, dass sie deshalb Informatik und Informationsdesign studiert hat: „Michi hat mich zu dem gemacht, was ich bin.“ Seinen tragischen Unfalltod im Alter von zwölf Jahren sieht sie als unabwendbares Schicksal, das ihr Leben und auch das ihrer Mutter schließlich zum Guten gewendet hat: „Meine Mutter hat sich in der Ehe und in dem kleinen Dorf, in dem wir damals gewohnt haben, unwohl gefühlt. Hätte sie ohne Michis Tod die Kraft gehabt, sich zu trennen?“ Viele Jahre lang kreisten Marlenes Gedanken intensiv um das Wohlergehen ihrer Mutter. Heute kann sie sich besser abgrenzen: „Jetzt geht es mir gut. Ich bin in meiner Mitte angekommen.“

„ES IST NICHT DEINE SCHULD“
Karin Kicker-Frisinghelli (44) aus Graz hat im Alter von 13 Jahren ihre zehnjährige Schwester Martina verloren. Die jüngere Schwester litt immer wieder unter Ohnmachtsanfällen, die medizinisch nicht geklärt werden konnten. Beim Besuch eines Pferdehofes starb sie plötzlich. Für Karin begann eine Zeit der Sorge um ihre Eltern und der Schuldgefühle. Unvergessen eine der letzten Begegnungen: „Wir haben am Morgen zuvor gestritten, wer als Erste ins Bad gehen darf.“ Tröstlich war ein Gespräch mit der Großmutter, die ihr sagte: „Mach dir nicht so viele Sorgen, auch sie hat mit dir gestritten. Es ist nicht deine Schuld.“ Karin Kicker-Frisinghelli hätte sich in der damaligen Situation mehr Ansprache gewünscht. Sie ist überzeugt davon, dass sich das traumatische Erlebnis auf ihre eigene Tochter übertragen hat.

Tipps für den Umgang mit trauernden Geschwistern

  • Nehmen Sie sich für Ihr Kind Zeit – trauern Sie gemeinsam.
  • Zeigen Sie dem Kind Ihre eigenen Gefühle und seien Sie damit ein Vorbild in der Trauer.
  • Beantworten Sie ehrlich und aufrichtig Fragen Ihres Kindes, auch wenn Sie sich wiederholen.
  • Geben Sie dem Kind die Möglich­keit, sich zu verabschieden.
  • Unterstützen Sie Ihr Kind beim Ausdruck seiner Gefühle, etwa durch Malen, Spielen oder kreatives Gestalten.
  • Beziehen Sie das Kind in die Gestaltung der Verabschiedung mit ein.
  • Nehmen Sie das Kind mit seinen Nöten und Ängsten ernst.
  • Erlauben Sie Ihrem Kind, auch fröhlich zu sein.
  • Bleiben Sie mit acht­samer Aufmerksamkeit bei den Bedürfnissen Ihres Kindes.
  • Informieren Sie wichtige Betreuungs­personen Ihres Kindes.
  • Suchen Sie für sich selbst und Ihr Kind Beratung und Begleitung.

www.rainbows.at

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  • Veröffentlicht: 01.03.2019
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