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Alles ist anders als es scheint

Alles ist anders als es scheint

Erlendur Sveinsson hat seinen allerersten Fall, noch keine Scheidung, ja, sogar noch keine Ehefrau und Ehe und auch noch keine Kinder: Er ist ein schüchterner, engagierter Streifenpolizist in Reykjavik. Er hat Zeit, er spottet über die Freude seines Polizisten-Kollegen für fast food, er bleibt bei der vertrauten Hausmannskost und kontrolliert die Straßen. Manchmal wird er auch zu Einsätzen in schmucke Einfamilienhäuschen, dort wo die Gewalt hinter Vorhängen tobt, gerufen. Aber alles o.k. Nur böse Nachbarin, kein Problem. Dann liegt die Ehefrau schwer misshandelt im Badezimmer und ein Obdachloser ertrinkt. Ertrinkt? Oder wird ertränkt? Dafür ist der junge Streifenpolizist nun nicht zuständig und er soll sich gefälligst heraushalten, ist doch alles o.k. Obdachlose sterben halt. Das hat schauerliche Parallelen zu Österreich, zu Wien, zum Toten im Lift der U-Bahn. Damit ist dieser hervorragende Krimi schon wieder im echten Leben angekommen: Einsamkeit des Ermittlers, Korruption des Systems, die Frage, wann ein Mensch, konkret Hannibal, aus der Spur gerät. Konkret war es hier ein längst verjährter Autounfall, eine alte Schuld und eine Familie, die in Selbstgerechtigkeit zu ersticken droht. Und die Frau, die nach einer Betriebsfeier verschwand? Nur Erlendur erkennt hier Zusammenhänge, kriecht durch eine Betonröhre, nimmt alte Ermittlungen wieder auf.

Es wurde davon ausgegangen, dass er eines natürlichen Todes gestorben war, und Erlendur glaubte, aus den Akten herauslesen zu können, dass der Tod eines Obdachlosen keine wirklich hohe Priorität für die Polizei gehabt hatte. Alle Umstände deuteten darauf hin, dass der Mann einfach ins Wasser gefallen war, damit war die Todesursache ein Unfall. Anscheinend hatte niemand Interesse an ihm.

Der Mörder wird gefasst, er ist keiner der Stadtstreicher, aber das haben wir ohnehin nie geglaubt. Viel Alkohol fließt in diesem Roman, dabei hat der Ermittler noch gar nicht mit dem Trinken begonnen. Er wird in die Pflicht genommen: bei der Polizei und von seiner Gelegenheitsfreundin, die von ihm schwanger ist. Jetzt? Eine Bindung? Wer Indridasons Krimis regelmäßig liest, weiß ja schon, wie es weiter geht, alle anderen haben noch sehr viel vor sich.

 

Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Roman nicht lesen: die Bekanntschaft einer schroffen Person, unendliche Spaziergänge durch Islands Hauptstadt, die Genugtuung, dass manche Verbrecher echt geschnappt werden und nicht immer davon kommen, große Gefühle, viel Suff und dazwischen einen knorrigen Humor.

 

Der Autor, Jahrgang 1961, ist Journalist bei Islands größter Tageszeitung, er schreibt Erfolgsromane, die in über 40 Sprachen übersetzt werden, die Kindheit in den Mittelpunkt rücken, nicht in Schwarz-Weiß, sondern in Graufstufen funktionieren.

 

 

Arnaldur Indridason:

Nacht über Reykjavik.

Island Krimi.

Lübbe 2014.

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  • Veröffentlicht: 18.02.2015
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