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11/12/24

Alleingeborene Zwillinge: War da noch jemand?

Alleingeborene Zwillinge: War da noch jemand?

Es gibt Menschen, die überzeugt sind, mit einem Zwilling im Mutterleib gewesen zu sein, für den es keine Beweise gibt und der vor der Geburt gestorben ist. Ein Trauma für das überlebende Kind?

Als Melanie Ploberger* (56) zu Allerheiligen mit ihrem Mann auf den Friedhof ging, wurde sie von einer Gedenkstätte für ungeborene und totgeborene Kinder angezogen und weinte, als würde hier ihr Kind liegen. Sie konnte sich nicht erklären, warum, aber nach diesem Erlebnis kehrte sie immer wieder an die Ruhestätte zurück, um Kerzen anzuzünden. Heute glaubt sie, den Grund dafür zu kennen. Ploberger ist überzeugt, ein Drilling im Mutterleib gewesen zu sein. Sie vermutet, dass ihre beiden Geschwister Hannah und Michael, wie sie sie nennt, unbemerkt im Mutterleib verstorben sind. 

Viele Schwangerschaften beginnen mit Zwillingen 

„Alleingeborene Zwillinge“ heißt das Phänomen, das immer mehr ins Bewusstsein von Therapeuten rückt. In Foren und Netzwerken tauschen sich Betroffene aus und trauern gemeinsam um ihre verstorbenen Geschwister. Auch die Forschung bestätigt, dass viele Schwangerschaften mit Mehrlingen beginnen, von denen nicht alle auf die Welt kommen. Wie viele es tatsächlich sind, ist nicht klar, weil der Fötus meist vor der ersten Ultraschalluntersuchung abgeht. Experten, die sich schon lange mit dem Thema auseinandersetzen, gehen davon aus, dass jede zehnte Schwangerschaft mit Zwillingen beginnt. Was für die Mutter oft unbemerkt geschieht, soll für den Zwilling, der überlebt hat, weitreichende Folgen haben. Durch das erlebte Trauma soll der oder die Überlebende später im Leben mit zahlreichen Symptomen konfrontiert sein. 

Der fehlende Teil im System 

Melanie Ploberger war stets traurig, konnte sich aber nicht erklären, warum. Geschah etwas, das jemand anderer verschuldete, fühlte sie sich dennoch verantwortlich. In Partnerschaften hatte sie Angst vor Trennungen und klammerte. Sie fürchtete andauernd den Verlust eines geliebten Menschen. Eines Tages nahm sie an einer systemischen Familienaufstellung teil. Dort sagte man ihr, dass ein Teil im Familiensystem fehle und sie eigentlich ein Zwilling sein sollte. Ploberger war verwirrt über diese Aussage, konnte das nicht wirklich glauben.

Ihre Mutter kann sich an keine Zwillingsschwangerschaft erinnern. Doch das Thema holte Ploberger immer wieder ein, denn es fühlte sich für sie immer noch so an, „als würde etwas fehlen“, sagt sie. Bei einer Lebensberatung tauchte das Zwillingsthema dann erneut auf. Als die Beraterin in einer szenischen Darstellung zu einer Figur ein Geschwister dazustellte, brach Ploberger in Tränen aus. Obwohl es keinen eindeutigen Beweis für die Existenz ihrer Schwester und ihres Bruders gibt, ist sie dennoch davon überzeugt. „Es ist schwierig, so etwas mit dem Verstand begreifen zu wollen. Aber man spürt einfach, dass es richtig ist“, sagt Ploberger.

Ewige Reisende, nirgends zu Hause 

Manja Ziehe (46) kennt das Gefühl gut. Auch sie ist sich sicher, ein alleingeborener Zwilling zu sein. Sie erinnert sich daran, eine ewige Reisende gewesen zu sein, die ständig unterwegs war, sich überall sofort zu Hause fühlte, aber nirgends zu Hause war. Ziehe war innerlich immer getrieben, aus ihrem Leben das Bestmögliche herauszuholen, und so jagte sie einer Ausbildung nach der anderen hinterher.

Sie deutet das als Zeichen. „So, als würde ich mich schuldig fühlen, wenn ich das Leben, das mir geschenkt wurde, nicht nutze – während mein Zwilling sterben musste“, sagt sie. Ziehe konnte immer gut mit sich alleine sein, auf einen zweiten Menschen ließ sie sich nur schwer ein, ihre große Liebe, sagt sie, war und ist die Freiheit. Eines Tages lernte sie einen Mann kennen, mit dem sie ein Kind bekam. Auch bei ihrem heute siebenjährigen Sohn glaubt sie, dass er einen Zwilling hatte. „Mein Sohn konnte sich, als er sehr klein war, an seinen Zwilling erinnern.

Oft können sich Kinder, wenn sie klein sind, noch daran erinnern, was vor ihrer Geburt war, daher lohnt es sich, nachzufragen. Auch eine Blutung in meiner frühen Schwangerschaft deutet auf einen Zwillingsverlust hin“, sagt sie. Ihr Sohn war sehr anhänglich und weinte viel. Sobald er seine Mutter nicht sofort sehen konnte, bekam er Panik. „Ich habe mir oft Vorwürfe gemacht, eine schlechte Mutter zu sein“, sagt Ziehe. Heute hat sie in solchen Situationen mehr Verständnis für ihren Sohn. Ziehe und ihr Mann versuchen, ihr Kind zu stärken. „Seine Ängste haben sich verringert.“

Ein Geschenk, kein Verlust 

Melanie Ploberger gab ihren Drillingsgeschwistern symbolisch einen Platz im Leben. Seither wurde es in ihr ruhiger. Anstatt ständig auf der Suche zu sein, kann sie sich nun besser auf sich konzentrieren. Sie fühle sich nicht mehr zerrissen, sondern komplett, nicht beraubt, sondern um zwei Geschwister beschenkt, sagt sie. 

* Name von der Redaktion geändert

„Plötzlich ist der andere weg“
Roswitha Veitl ist Lebens- und Sozial- beraterin und Leiterin systemischer Familienaufstellungen. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit alleingeborenen Zwillingen.

Sophia Lang: Warum haben Sie angefangen, sich mit alleingeborenen Zwillingen zu beschäftigen?

Roswitha Veitl: Ich habe mich dem Thema alleingeborener Zwillinge gewidmet, weil ich selbst davon betroff en war. Mein Sohn war als Schulanfänger sehr unkonzentriert und nicht aufnahmefähig. Ich bin mit ihm damals zu einer Kinesiologin gegangen. Die stellte ihm die Frage, ob er denn alleine in meinem Bauch gewesen sei, und er antwortete prompt mit Nein und sagte auch, dass er einen Bruder hatte, der Paul hieß. Mein Sohn war kein Kind, das sich etwas einreden ließ. Ich war skeptisch, aber es hat mir keine Ruhe gelassen, weil mein Sohn nicht aufhörte, von seinem Zwillingsbruder zu sprechen. Also habe ich mich damit auseinandergesetzt und ein Seminar besucht.

Was gab Ihnen die Bestätigung, dass etwas an dem Phänomen dran sein könnte?

Wenn ich Familien systemisch aufstellte, fiel mir auf, dass bei manchen Menschen ein Teil im Familiensystem zu fehlen schien. Ein in der Frühschwangerschaft abgegangenes Kind oder ein Zwillingsgeschwister war oft der fehlende Part. Denn mit dessen Integrierung wurden die Symptome der Betroffenen besser.

Was passiert im Mutterleib, wenn ein Zwilling stirbt?

Bei den meisten Zwillingsschwangerschaften geht ein Embryo in den ersten Wochen ab. Je nach Zeitpunkt kann ein Embryo dann bereits fühlen, weil das limbische System schon ausgebildet ist. Die Zwillinge spüren diese tiefe Verbundenheit, körperlich und seelisch, doch plötzlich ist der andere weg. Das ist ein Schock und hat tiefgreifende Prägungen für den überlebenden Zwilling.

Wie kann sich das auf den zweiten Embryo auswirken?

Kommt der überlebende Zwilling alleine auf die Welt, trägt er dieses unverarbeitete Trauma in sich. Oft handelt es sich um Schreibabys, oder sie haben massive Verlustängste. Später ist auff ällig, dass sich solche Kinder immer jemanden zweiten suchen, mit dem sie ganz eng verbunden sind. Sie fühlen sich auch oft von Zwillingen angezogen. Viele Kinder haben auch ein Stofftier oder Phantomfreunde, an die sie sich extrem binden, sie kaufen später für zwei ein, essen oder packen auch unbewusst für zwei. Und es besteht eine große Sehnsucht nach etwas oder jemandem, für die es keine Erklärung gibt. Sie erleben auch eine tiefe Traurigkeit und unerklärliche Schuldgefühle, die sich durchs Leben ziehen. Viele haben auch Probleme mit Nähe und Abgrenzung, vor allem in Partnerschaften, weil dort das Trauma gegebenenfalls reaktiviert wird.

Es geht hier um Zwillinge, die gar nicht wussten, dass sie Zwillinge gewesen waren. Warum ist es so schwierig, Gewissheit zu haben?

Weil es zum Zeitpunkt des Abgangs oft noch kein Ultraschallbild gibt und die Zwillingsschwangerschaft unentdeckt bleibt. Oft stellt sich im Gespräch mit der Mutter dann heraus, dass es Blutungen in der Schwangerschaft gegeben hat, die scheinbar keine Ursache hatten, das ist oft ein Indiz. Bei manchen überlebenden Zwillingen zeigt sich das tote Geschwister in Form von Zysten oder Fisteln im Körper, auch Zwillingswunde genannt, in denen auch DNA eines Zwillings zu finden ist.

Was ändert sich, wenn die Betroffenen mehr Gewissheit haben, dass es jemanden Zweiten gab?

Für viele Betroffene reicht es schon, eine Erklärung für ihr Empfinden zu haben und dem verstorbenen Zwilling einen Platz in ihrem Leben zu geben. Ich erarbeite mit meinen KlientInnen in der Therapie einen individuellen Heilungsweg mit Aufstellungen und Visualisierungen. Es gibt genügend Raum für Gefühle, die auftauchen, und es geschieht oft viel Heilung, wenn sie den damaligen Schmerz und Verlust nochmals fühlen.

Weitere Infos: www.roswitha-veitl.at 

„Es ist falsch, Symptome auf eine Annahme zu reduzieren“
Erika Schedler ist Psycho- und Traumatherapeutin. Sie rät dazu, sich nicht in dem Thema „überlebender Zwilling“ zu verlieren

Sophia Lang: Kann der vorgeburtliche Abgang eines Zwillingsfötus tat-sächlich Auswirkungen auf den überlebenden Embryo haben?

Erika Schedler: Dazu sollte vorab geklärt werden, ab wann ein Mensch Informationen abspeichert. Es wird vermutet, dass Stress im Mutterleib enorme Spuren bei den Embryonen hinterlässt, aber auch bei der Mutter. Da wo vorher zwei Körper waren, ist nur mehr einer. Das bewirkt auch hormonelle, physische und psychische Veränderungen. Natürlich ist der Zeitpunkt des Abgangs ein wichtiger Faktor dafür, wie groß das Ausmaß der Folgeschäden beim überlebenden Kind und auch der Mutter ist.

Welche Symptome kann das später beim überlebenden Kind auslösen?

Ein Verlust löst in unverarbeiteter Form chronische Trauer aus. Mögliche Symptome können nach meinen Erfahrungen aus der Praxis anhaltende Trauer sein, Schuldgefühle, Leere, Orientierungslosigkeit, Sehn- sucht nach einer Einheit, rastlose Suche ohne Resultat, übergroße Vorsicht und Angst, jemandem Schaden zuzufügen.

Solche Symptome können aber auch einen anderen Ursprung haben?

Ich finde es falsch, Symptome nur auf eine Annahme zu reduzieren. Menschen können sich in Ideologien, Esoterik, partiellem Wissen etc. leicht verlieren. Jeder Mensch macht sich auch seine eigene Legende, die mit der objektiven Wahrheit nicht viel gemeinsam haben muss. Vielleicht halten Betroffene mit dieser Erklärung, sie hätten im Mutterleib ein Zwillingsgeschwister gehabt, ihre Gefühle eine Zeit lang besser aus. Irgendwann können die Symptome dann aber, wenn sie nicht richtig behandelt wurden, wieder auftauchen. Dann muss der Mensch erneut nach einer Lösung für Heilung suchen.

Was raten Sie deshalb?

Ich rate dazu, sich mit diesen Gefühlen aktiv und mutig auseinanderzusetzen. Mit sich alleine, mithilfe von Fachbüchern, TherapeutInnen, Selbsthilfegruppen etc. Denn die Gefühle belasten uns, nicht die vermeintliche Tatsache. Ein Mensch mit vorgeburtlichem Trauma hat vermutlich früh gelernt, seine Wahrnehmung von seinem Körper und seinen Bedürfnissen zu trennen, um sich vor seinen überwältigenden Gefühlen zu schützen. In der Therapie werden diese unterbrochenen Prozesse zu Ende gebracht.

Muss ein Mensch dazu überhaupt wissen, ob er ein alleingeborener Zwilling ist?

Wenn es für die Betroffenen wichtig ist und es die Informationen dazu gibt, dann kann es zur Heilung beitragen. Ansonsten bleiben die Gefühle im Vordergrund, um mit ihnen zu arbeiten. Vielleicht tauchen dann Erinnerungen auf, es kann aber auch sein, dass es einen völlig anderen Grund für diese Gefühle gibt. 

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  • Veröffentlicht: 25.10.2021
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