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04-05/24

Ada Blackjack: Alleine in der Arktis

Ada Blackjack: Alleine in der Arktis

Um Geld für die Behandlung ihres kranken Sohnes aufzutreiben, nahm die Inuit Ada Blackjack an einer Expedition zu einer unbesiedelten arktischen Insel teil. Die Mission stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Alle Teilnehmer kamen um – bis auf Ada Blackjack, die nur in Gesellschaft einer Katze monatelang alleine auf der Insel überlebte.

Ada Blackjack tippt langsam. Die Knöpfe der Schreibmaschine sind schwergängig, und ihre Finger sind eiskalt. Lorne Knight, hält sie fest, sei verstorben. Lange Wochen hat sie ihn gepflegt. Nun ist sie ganz allein. Nur die Katze Vic streicht schmeichelnd um ihre Beine. Ada steht auf und sieht hinaus ins Schneegestöber. Sie muss hier weg, zurück zu Bennett, ihrem Sohn, den sie zur Versorgung ins Waisenhaus geben musste. Um seine Tuberkulose behandeln zu können, ist sie überhaupt erst auf diese verfluchte Expedition gegangen. Ada konzentriert ihre gesamte Willenskraft darauf, Bennett wiederzusehen. Sie muss am Leben bleiben. Und dazu muss sie als nächstes irgendetwas gegen diese verdammten Eisbären tun.

Ada Blackjack wird am 10. Mai 1898 in Solomon, Alaska geboren. Sie ist eine Inuit, doch erzogen wird sie von christlichen Missionaren, die ihr Englisch beibringen und sie in Hauswirtschaft unterrichten. Zu jagen, zu fischen oder in eisigen Temperaturen zu überleben lernt sie nie. Mit sechzehn Jahren heiratet sie einen Schlittenhundehalter, doch die Ehe ist nicht gerade glücklich. Ada bekommt drei Kinder, von denen nur eines überlebt: Bennett, der zeitlebens mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hat. Nach wenigen Jahren lässt sich Adas Mann von ihr scheiden, und sie bleibt alleine zurück – verarmt und ohne Möglichkeit, Bennetts Behandlung zu bezahlen.

Hier kommt Vilhjálmur Stefánsson ins Spiel. Der kanadische Polarforscher, Sohn isländischer Einwanderer, träumt von seinem nächsten Coup. Er will die Wrangelinsel im arktischen Ozean besiedeln und für Großbritannien, zu dem Kanada damals gehört, beanspruchen. Die karge Insel liegt nördlich von Sibirien, etwa vierhundert Kilometer östlich von Alaska. Dass Großbritannien nie Interesse an der Insel bekundet hat, stört Stefánsson nicht. Ebenso bereitet ihm kein Kopfzerbrechen, dass die vier Männer, die er ausgewählt hat, kaum die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten für die Expedition haben. Auf der Insel gäbe es genügend Nahrung für sie alle, verspricht er, sie müssten sich keine Sorgen machen. Die Inuit, die er angeworben hat, um seine Mannschaft auf der Insel zu versorgen, sehen das anders. Sie alle springen vor Beginn der Expedition ab. Nur Ada nicht, die die versprochenen fünfzig Dollar pro Monat bitterlich benötigt. Sie soll für die Männer nähen und kochen.

Am 9. September 1921 sticht das Schiff „Silver Wave“ in See. An Bord sind neben Ada die Männer Allan Crawford, Fred Maurer, Milton Galle und Lorne Knight sowie eine Katze namens Victoria, die alle nur Vic nennen. Das Expeditionsteam hat Proviant für ein halbes Jahr dabei; danach soll es sich auf der Insel selbst ernähren. Doch die Wrangelinsel ist nicht nur viel größer, sondern auch viel karger als erwartet. Ihr Boden ist das ganze Jahr über gefroren, für Bäume ist es zu kalt. Das Land ist großteils von arktischer Tundra bedeckt, und im Winter wird die gesamte Insel von Eisschollen eingeschlossen. Nach einigen Monaten geht der Proviant langsam zur Neige, und die Insel beheimatet nicht genug Wild, um sie alle dauerhaft zu ernähren. Im Jahr 1922 schickt Stefánsson ein Versorgungsschiff los, doch es kann die Insel wegen des dicken Treibeises nicht erreichen. Das Team beginnt zu hungern.

Zur selben Zeit wird Lorne Knight krank. Er hat sich eine hartnäckige Erkältung zugezogen und leidet an Skorbut. Es muss etwas getan werden. In einem verzweifelten Versuch, Hilfe zu holen, beschließen die drei anderen Männer, nach Sibirien aufzubrechen. Sie wollen hunderte Kilometer auf dem zugefrorenen Meer zurückzulegen, um das Festland zu erreichen. Sie lassen Ada, den Kranken und die Katze auf der Insel zurück. Doch sie kommen nie in Sibirien an.

Nun ist Ada mit Lorne Knight allein. Sie hackt Holz, jagt, kocht, pflegt den Kranken und hält das Lager in Schuss. Knight, der im Sterben liegt, lässt all seine Wut und Hilflosigkeit an Ada aus. Sie erträgt seine Schimpftiraden still. Im Juni 1923 verstirbt er. Nun ist Ada allein. Anstatt zu verzweifeln, kämpft sie um ihr Leben. Sie lernt Fallen zu stellen, repariert den Unterschlupf, errichtet eine Plattform, um Ausschau nach Eisbären halten zu können, und baut ein Boot aus Treibholz und Tierhäuten. In ihr Tagebuch kritzelt sie einen Testamentsentwurf, um Bennett auf jeden Fall versorgt zu wissen. Mehrere Monate lebt sie so, mit der Katze Vic als einziger Gesellschaft. Am 19. August 1923 erscheint ein Schiff am Horizont. Ada wird gerettet.

Danach bricht ein wahrer Medienzirkus um sie los. Stefánsson verfasst ein Buch über den „weiblichen Robinson Crusoe“ und verdient gut daran. Ada selbst bekommt nur ihren Lohn für die Expedition; sie erhält keinen Anteil an der medienwirksamen Vermarktung ihrer Geschichte. Sie scheut den Trubel und zieht stattdessen los, um Bennett aus dem Waisenhaus zu holen. Er wird geheilt. Später heiratet Ada erneut und bekommt einen zweiten Sohn, Billy. Mit 85 Jahren verstirbt sie in ihrer Heimat Alaska.

Ricarda OpisRicarda Opis

wurde 1996 in Graz geboren und studierte ebendort Journalismus und Public Relations (PR). Sie erzählt am liebsten die Geschichten von Frauen und Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Für diese Serie verbindet sie ihre beiden größten Leidenschaften, indem sie die Geschichten großer Frauen nicht nur erzählt, sondern auch bebildert. Wenn sie nicht gerade schreibt oder zeichnet, begeistert sie sich für alles, was sonst noch kreativ ist, und die Geschichte, Kulturen und Politik des Nahen Ostens.

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  • Veröffentlicht: 17.06.2020
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