Achtsamkeitsmeditation kann Stress reduzieren und insgesamt glücklicher machen. Derzeit wird sie zum allseits beliebten Therapeutikum. Aber nicht jede Anwendung entspricht auch ihrem eigentlichen Zweck. Was kann die Methode und wo liegen ihre Grenzen?
Lea Vogel ist Mitte 20, als sie sich zum ersten Mal „am Ende“ fühlt. „Es war ein langsamer und mühsamer Aufstieg von der Praktikantin zur Leiterin“, so beschreibt Vogel ihre ersten Jahre in einer Berliner PR-Agentur. Eigentlich ein Traumjob in einer Traumstadt. Dennoch geht es der jungen Frau schlecht. Im Niemandsland zwischen Burn-out und Sinnkrise schmeißt sie den Job hin und macht sich auf die Suche nach Heilung.
Personen wie Lea Vogel landen nicht selten in den Seminaren der Philosophin, Autorin und MBSR-Trainerin Ursula Baatz. „Mindfulness-Based Stress Reduction“, kurz MBSR, ist ein in den 70er-Jahren vom amerikanischen Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn entwickeltes Stressmanagement- und Achtsamkeitsprogramm.
Wer sich für acht Wochen bei ihr für ein derartiges Training einschreibe, habe nachher ein anderes Leben, ist Ursula Baatz, die selbst seit Jahrzehnten Zen praktiziert, überzeugt. Mittlerweile gibt es auch eine Vielzahl neurowissenschaftlicher Studien, die die Effizienz von MBSR belegen.
AUFMERKSAMKEIT ALS WARE
„Achtsamkeit, das ist die Gegenbewegung zum allgemeinen Aufmerksamkeitsdiktat“, sagt Baatz und fügt hinzu: „Aufmerksamkeit ist zur Handelsware geworden.“ Als ehemalige Ö1-Journalistin weiß sie um die Zielsetzung vieler Medien, die Menschen rund um die Uhr zu Selbstoptimierung und Konsum zu verleiten. „Die Werbezeit zwischen ZIB und Sport ist die teuerste, hier gibt es die meiste Aufmerksamkeit abzuholen“, sagt Baatz. Die Sache hat – rein biologisch betrachtet – nur einen Haken: Die menschliche Aufmerksamkeit ist ein beschränktes Gut.
Dies weiß auch der Arbeitspsychologe Johann Beran, dessen tägliches Brot es ist, ArbeitnehmerInnen vor dem Burn-out zu bewahren. „Durch die Digitalisierung geht alles viel schneller. Was früher vier Menschen erledigt haben, macht heute einer“, sagt Beran. „Der durchschnittliche Arbeitnehmer sitzt den ganzen Tag vor dem Bildschirm und verwaltet Unmengen an Daten. Am Abend schaltet er den Fernseher oder das Tablet ein und wechselt damit nur zum nächsten Datenverwalten.“ Dieser ständige Beschuss mit Reizen löse Stresskaskaden aus. „Dafür ist das menschliche Gehirn nicht gedacht“, sagt Beran. Stressausschüttung ja, aber immer nur für eine begrenzte Zeit. Messungen würden zeigen, dass der Sympathikus, der aktivierende Part unseres Nervensystems, bei vielen Menschen mittlerweile auch in der Nacht aktiv sei.
„Wir müssen lernen, dass der Bildschirm kein Entspannungsgerät ist“, sagt der Experte.
WALD STATT BILDSCHIRM
In der Psychologie gibt es seit den 80er-Jahren eine Theorie darüber, wie sich erschöpfte kognitive Ressourcen wieder erholen können, die sogenannte „Attention Restoration Theory“ der Amerikaner Rachel und Stephen Kaplan. Die beiden Psychologen belegen, dass wir zum „Abschalten“ vor allem Umwelten brauchen, die keine „direkte Aufmerksamkeit“ erfordern, die sich also intuitiv erschließen. Lieber Natur als Bildschirm, lässt sich die Botschaft knapp zusammenfassen, denn jeder Park und jeder Wald lädt dazu ein, sich zu verlieren und die direkte Konzentration abzuschalten. Das ist Entspannung. „Früher saß man nach der Arbeit einfach auf dem Bankerl“, sagt Baatz. Das Bankerl gibt es für die meisten schon lange nicht mehr. Dafür jedoch den Meditationshocker. Denn mittlerweile machen sich immer mehr Menschen wie Lea Vogel aus einer persönlichen Krise heraus auf die Suche nach Alternativen. Nicht wenige stoßen dabei auf die Achtsamkeit als neues Lebensprinzip, das mithilfe meditativer Praktiken in den Alltag eingebaut wird.
Lesen Sie weiter in der Printausgabe.
„Heute kann ich sehen, dass die Angst nur ein Teil von mir ist, der auch wieder vergeht.“
„Achtsamkeit ist die Gegenbewegung zum allgemeinen Aufmerksamkeitsdiktat. “
Fit für eine kranke Gesellschaft?
Der Psychotherapeut und buddhistische Meditationslehrer Harald Tichy hat viel zum Thema „Achtsamkeit“ geforscht. Säkulare Achtsamkeitsprogramme könnten helfen, psychisch gesund zu bleiben, seien aber heute auch kritisch zu hinterfragen, ist er überzeugt.
Kann man eigentlich auch ohne Achtsamkeit glücklich leben?
Harald Tichy: Ganz offensichtlich können Menschen ohne Achtsamkeit glücklich sein. Das Unpraktische konventioneller Glückserfahrungen ist, dass sie so kurzlebig sind. Engagierte Achtsamkeitspraxis ermöglicht es, Bewusstseinsbereiche kennenzulernen, in denen wir ein ungleich beständigeres Gefühl von Wohlbefinden erleben können, als es uns die Erfüllung von konventionellen sinnlichen Genüssen erlaubt.
Gibt es Menschen, die intuitiv leichter Zugang zur Achtsamkeit haben?
Dazu existieren, glaube ich, noch keine Studien, aber ich gehe davon aus, dass hier einerseits Sozialisation und Erziehung eine große Rolle spielen. Je mehr es Kindern erlaubt wird, bei ihrer Erfahrung zu bleiben und sich dem, was sie interessiert, neugierig und interessiert zuzuwenden, umso leichter fällt es ihnen sicherlich, auch später achtsam zu sein. Meine zweite Hypothese wäre, dass auch genetische Faktoren eine Rolle spielen.
Kritiker wie der englische Historiker Theodore Zeldin bezeichnen die Achtsamkeit heute auch als „Tranquilizer“ beziehungsweise als „narzisstisches Projekt“ – was sagen Sie dazu?
Mittlerweile wird den gesamten säkularen Achtsamkeitsbewegungen nachgesagt, dass sie Menschen fit machen für eine kranke Gesellschaft. Das ist offensichtlich eine Gefahr. Es ist nun einmal ein Riesenunterschied, ob ich im Rahmen eines MBSR-Trainings lerne, meinen Stress zu reduzieren und glücklicher im Augenblick zu leben, oder ob ich dem buddhistischen „Heilsziel“ von Nirvana folge. Dies beinhaltet immer auch das bewusste Sichüben in einem tugendhaften Leben. In den frühbuddhistischen Schriften heißt es, man brauche Achtsamkeit nach innen und außen.
Worauf sollte man als Laie achten, wenn man mit einer Form der Meditation oder der Achtsamkeitspraxis beginnt?
Es ist empfehlenswert, sich eine Lehrerin oder einen Lehrer mit viel Meditationserfahrung zu suchen. Es gibt Ausbildungsprogramme, bei denen man parallel zur MBSR-Ausbildung zu meditieren beginnt; das würde ich kritisch sehen.
Harald Tichy meint, dass Meditation nur dann wirklich tief wird, wenn die oder der Meditierende sich auch um ein ethisches Bewusstsein bemüht.
Fotos: Anna Wasilewski, Lukas Beck, Andreas Altmann
Erschienen in „Welt der Frauen“ 01-02/19